zurück zu Kapitel 46    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 48

 

Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 47

 

Henrik Olsen kam am nächsten Abend später aus Kiel zurück, als er es erhofft hatte. Die Autobahn zur Ostsee und den nordischen Ländern war jetzt zu Beginn der Ferienzeit übervoll gewesen. Er fuhr erst gegen elf Uhr abends die Auffahrt zu seinem Haus am Hang hinauf. Müde war er nicht, denn der bevorstehende Anruf bei Viola, den er Troll versprochen hatte, quirlte wie Adrenalin in seinen Adern.

Doch als er im Wohnzimmer sein Handy aus seinem Jackett genestelt hatte, zögerte er. Druck lastete plötzlich auf seinem Magen. Wie wird Viola reagieren? fragte er sich und fühlte den Druck noch beklemmender.

Um Zeit zu gewinnen, rief er erst Troll und dann Anna an. Nachdem er erfuhr, dass Ole schon fest schlief, berichtete er von Kiel. Davon, dass es keine Schwierigkeit bereitet hatte, den Steward dort ausfindig zu machen und nach seinen Erinnerungen an die Unglücksnacht zu befragen. Auf die Nachfrage des Stewards, warum Henrik denn nach so langer Zeit danach frage, hatte Henrik ihm erzählt, was ihm Troll alles vom Vortag in Köln geschildert hatte. Der Steward hatte genickt und dann lange erzählt. Er schien froh gewesen zu sein, die düsteren Erinnerungen jener Unglücksnacht nun mit jemandem teilen zu können. Und so hatte Henrik erfahren, dass es damals zwei kleine blonde Mädchen in nicht weit auseinanderliegenden Kabinen auf der Steuerbordseite der Baltica gegeben hatte.

„Die zwei steckten dauernd zusammen“, hatte sich der Steward erinnert, „obwohl sie noch kaum laufen, sondern mehr nur herumkrabbeln konnten. Die Eltern schienen darüber froh gewesen zu sein, denn die beiden durften sogar mal in der einen, dann in der anderen Kabine über Nacht bleiben.“ Dann hatte der Steward plötzlich gestockt. „Und jetzt nach der DNA-Analyse glaubt man, mir wäre damals gar nicht die kleine Heike sondern Nadine Meiners in die Arme gespült worden?“

„Das steht wohl jetzt fest“, hatte Henrik bestätigt und dem alten Mann beruhigend seine Pranke auf die Hand gelegt. „Die beiden bis auf die Farbe des Stickgarns identischen Armbändchen, die Viola und Nadine besitzen, wie mir berichtet wurde, lassen keine andere Möglichkeit zu.“

„Werde ich deswegen noch Ärger kriegen?“ hatte der Steward noch gefragt, aber Henrik hatte ihn beruhigt, ehe er sich verabschiedete. „Wie hätten Sie denn etwas anderes annehmen können, wo Sie sich doch sogar die Kabinennummer gemerkt hatten, aus der das Mädchen gespült wurde? Und das war die Nummer der Kabine, die die Familie vom Lindenbaum belegt hatte. Vielleicht kommen ein paar Behördengänge auf Sie zu, dann ist endlich Ruhe für Sie.“

Troll hatte danach nichts mehr gefragt. Nur noch gesagt: „Vergiss nicht, Viola anzurufen. Ole kannst du morgen gegen Abend holen. Du wirst den Tag morgen für euch brauchen.“

Henrik schilderte den Tag dann genau so, als er danach Anna anrief. Anna war entgegen ihrer sonstigen Art so merkwürdig still geblieben, während Henrik erzählte, dass er zum Schluss gefragt hatte: „Anna, ist etwas? Du bist so still…“

Da hatte er gehört, dass Anna schluchzte. „Ich musste eben mal heulen, Büffel“, hatte sie leise geantwortet. Und hinzugesetzt: “Den Namen Büffel behalte ich für dich, Henrik. Obwohl ich nun weiß, dass du gar keiner bist. Das, was du tust, spricht eine andere Sprache als das, was du oft sagst. Rufst du jetzt bitte Viola an? Bitte. Ich weiß, dass sie wartet.“

Annas letzter Satz hatte Henrik das Magendrücken genommen. Dennoch legte er sein Handy mal hierhin, mal dorthin, ohne den silberfarbenen Schutzdeckel zu öffnen. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen, gestand er sich schließlich ein, als er schon in seinem Bett lag. Er lag im Halbdunkel, der Mond spähte mit mildem Licht herein.

Henriks Handy musste lange warten, ehe er schließlich zögernd den Deckel öffnete und auf die Taste drückte, unter der Violas Nummer gespeichert war. Dann lag er still und hielt den Atem an, während er dem Klingelton nachhorchte, der ihm in diesem Moment viel zu laut und zu forsch erschien. Das Klingeln des Handys schien Henrik endlos zu dauern. Er fühlte, dass kleine Schweißperlen auf seine Stirn drängten. Sie schläft schon, dachte er enttäuscht und wollte schon aufgeben, als er Violas Stimme hörte. Leise, aber nicht verschlafen. „Ja, Henrik?“

„Schläfst du schon?“

„Nein, ich hab mich zwar schon ins Bett gelegt, aber noch nicht geschlafen.“

Henrik fühlte das Blut in seinen Schläfen jagen, als die Stimme, nach der er sich nun seit Wochen sehnte, so dicht an seinem Ohr erklang. Ein, zwei Sekunden vergingen. „Ich bin von Kiel zurück, Viola. Und ich hatte sowohl Troll als auch Anna versprochen, dir noch zu berichten.“ Henrik bemühte sich mit aller Konzentration, seine Stimme unaufgeregt klingen zu lassen, doch ein Räuspern im Reflex verriet ihn.

„Ach so, deswegen…“

„Nicht nur deswegen, Viola.“ Henriks Stimme verriet nun doch Anspannung. Dann erzählte er, was er vorher schon Troll und Anna erzählt hatte.

Viola hörte scheinbar ruhig zu. Doch mit unüberhörbarem Jubel in der Stimme gestand sie schließlich leise: „Wie schön! Und danke für deine Fahrt, Henrik. Ich habe wieder eine Schwester! Wunderbar! Mein Alptraum vom hereinbrechenden Wasser, von der Frau mit dem Licht, von den Worten, die ich nicht verstehen konnte oder vergessen habe, war gar keiner, Henrik.“

„Nein. Gott sei Dank, dass alles so anders gekommen ist, Viola. Sonst würden wir jetzt nicht miteinander telefonieren. Ich wäre für immer fort aus deinem Leben. Und du aus meinem.“ Ein Aufstöhnen, das zu plötzlich kam, um es zu unterdrücken, kam über seine Lippen. „Ich möchte die Wochen, in denen du und Ole weg wart, nicht noch einmal erleben, Henrik“, flüstere Viola, die von seinen Worten tief ergriffen wurde. „Auch wenn wir uns nicht wieder finden sollten. Nicht nochmal solche Wochen, Henrik. Nicht solche.“

„Warum machen wir uns es denn nicht einfach und finden uns?“ fragte da Henrik, und seine Stimme hatte wieder den starkenKlang, den Viola liebte.

„Einfach so?“

Henrik lachte leise. „Nicht einfach so, Viola. Haben wir nicht erfahren, nicht zu zweifeln? Mir wird so etwas nie mehr passieren. Und ich nehme die Gelegenheit wahr und gestehe, dass es mir unendlich leid tut, was passiert ist. Auch gerade durch meine blinde Eifersucht.“

Viola sagte lange nichts. Dann, nach einer ganzen Weile: “Ich hätte bestimmt auch nicht anders reagiert, Henrik, wenn mir solch eine DVD zugespielt worden wäre.“ Dann hörte Henrik sie aufatmen, schließlich leise lachen. „Doch, ich hätte etwas anders gemacht, Henrik. Ich wäre nicht geflüchtet.“

„Sondern?“

„Ich hätte dich mit dem schärfsten Schnitzmesser aus deiner Werkstatt massakriert. Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch keine andere bekommen. Ich bin also der infamen Intrigantin mit der DVD gar nicht so unähnlich, nicht?“

„Bitte, Viola“, seufzte Henrik, „sag nie wieder ähnlich oder unähnlich. Ihr beiden so ähnlichen Schwestern…Für dieses Leben reicht es.“

Viola und Henrik schwiegen. Erst nach Minuten fragte Henrik leise: “Was machst du gerade, Viola?“

„Ich lausche, ob du noch atmest, Henrik.“

„Und wie! Kaum auszuhalten.“Dann heiserer: „Wo hast du dein Handy, Viola? Du klingst entfernter als eben. Auf deinem Nachttisch?“

„Mir schlief der Arm ein. Es liegt auf meiner Brust.“

„Auf einem T-Shirt? Oder Nachthemd?“

Viola lachte lockend. „Als wenn ich in so einer warmen Nacht was anziehen würde, Bison! Und du?“

„Auch nichts. Viel zu warm.“

Wieder vergingen Minuten, in denen keiner von beiden etwas sagte, dann hörte Henrik Viola flüstern: “Soll ich auflegen. Bison? Du bist sicher jetzt müde nach diesem Tag.“

„Nein, nicht, Viola.“ Henrik flüsterte nun auch. Und dann, noch leiser: „Ich wünschte, du wärest jetzt hier.“

„Ja, ich auch, Henrik. Mach ein bisschen Platz, ich komme zu dir geflogen, -wenigstens in meiner Fantasie.“

Viola hörte Henriks Bett knarren, dann flüsterte er heiser: „Nun komm, es ist Platz.“

„Bin schon da.“ Violas Stimme war nun auch heiser. Bis sie dann nach einer ganzen Zeit plötzlich hell auflachte. Es klang wie Lerchentrillern.

„Was ist, Liebes?“ fragte Henrik. „Warum lachst du?“

„Deine Hände auf meinem Bauch, sie sind so kalt… Außerdem bin ich da kitzelig.“

„Soll ich sie fortnehmen, Viola?“

„Bloß nicht!“

 

zurück zu Kapitel 46    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 48