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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 48

 

Die Morgensonne griff über die Fichtenspitzen, die das weite Tal hinter Violas Blockhütte säumten und schaute verschlafen über die weißen Dunstschleier auf den Waldwiesen. Sie schob sie einen ersten goldfarbenen Finger in das Tal und hob die Schleier auf, die Elfen nach ihrem Morgentanz achtlos hatten liegen lassen.

Dem Finger folgte ein zweiter, und dieser blieb bald an einer jungen Frau hängen, die aus ihrer Blockhütte trat. Die auf der Terrasse ihren Rucksack schulterte, ein Fernglas umhängte und dann dem Feldweg folgte, der hinter der Hütte in einer Obstwiese begann und weit in das Tal hinein führte. Die junge Frau in ihrem hellblauen Sommerkleid ging zuerst forsch, dann aber verlangsamte sich ihr Schritt immer mehr. Ab und zu blieb sie gar stehen, sah zurück. Dabei schien sie auf etwas zu lauschen. Erst als in der Ferne ein Motorbrummen immer lauter wurde, setzte die junge Frau wieder einen Fuß vor den anderen.

Das Motorengebrumm erstarb bald hinter der Blockhütte, und ein hünenhafter junger Mann in Shorts und buntem Sommerhemd bog zügig in denselben Feldweg ein, folgte der Frau.

Die Frau im blauen Sommerkleid verlangsamte ihren Schritt noch mehr, als der junge Mann sie fast erreicht hatte. Sie blieb stehen, wandte sich dem Hünen zu.

Die nun nicht mehr verschlafene Morgensonne schickte einen neugierigen dritten Finger über die Fichtenspitzen, als sie die beiden voreinander stehen sah. Auf Armeslänge entfernt. Ihre Arme hingen an ihren Seiten herab. Sie schwiegen offenbar, denn kein Wort war in der Morgenstille  zu hören.

Erst nach langen Minuten, in denen die beiden jungen Menschen sich nur angesehen hatten, traten sie aufeinander zu, standen schließlich dicht voreinander. Die Arme des Hünen legten sich behutsam auf die Schultern der jungen Frau, die sich nun auf die Fußspitzen reckte, und ihre Hände suchten hoch oben auf seinen breiten Schultern Halt. Ganz langsam senkten sich ihre Köpfe gegeneinander, bis ihre Stirnflächen sich berührten. So verharrten sie bewegungslos. Lange.

Erst als die neugierige Sonne nun ganz über die Fichtenwipfel kletterte und das ganze Tal warm und hell ausleuchtete, gingen die beiden jungen Menschen nebeneinander weiter.

Ihre Hände fanden sich, sie schlenkerten die Arme beim Gehen übermütig zwischen sich vor und zurück. Ihr Schritt war so leicht, als wenn ihre Füße beim Gehen nicht den Boden berührten.

Sie gingen in das weite Tal hinein, zu den bunten, wartenden Wiesen.

 

Ende

 

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