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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 44

 

Erst zehn Minuten, nachdem Anna den Computer schließlich heruntergefahren hatte, wich die Starre aus allen. „Ich nehme auch einen, Troll. Lass die Flasche offen.“ Thomas Laval war der erste, der schließlich wieder sprach. „Noch jemand einen Cognac?“ fragte er, und als er nur Kopfschütteln erntete, wandte er sich wieder Troll zu. Er trat neben ihn an das Barfach und hielt dem Maler ein Glas hin. „Was sagst du dazu?“ fragte er den Alten leise.

Trolls Gesicht legte sich in unzählige Sorgenfalten. „Schlimm, das Ganze, für die Mädchen. Da können wir uns nicht einfühlen.“ Auf Thomas Lavals Nicken setze er leise hinzu: „Und ich habe so eine Ahnung, als wenn das nicht die letzte gravierende Überraschung für heute gewesen ist.“

Trolls Ahnung sollte sich bestätigen. Sie hatten noch eine Zeitlang ohne Ergebnis über Violas und Heikes Ähnlichkeit spekuliert, später das Fährunglück besprochen. Plötzlich fragte Thomas Anna: „Sag mal, lebt dieser Steward eigentlich noch, dem Heike in die Arme geschwemmt wurde, als die Kabinentür durch das Wasser herausgedrückt wurde?“

„Nach meinen Informationen, ja. Er müsste immer noch in Kiel wohnen. Wenn ich seine Adresse in Erfahrung bringen soll, müsste das über die Reederei möglich sein.

Warum fragst du?“

„Ach, ich sah gerade das Bild vor mir, wie Heike da im Nachthemdchen angeschwommen kam. Oder hattest du Strampelhöschen an, Heike vom Lindenbaum?“ Er wollte seine Frau offenbar aufmuntern, aber Heike war noch zu sehr von Annas Bilddateien gefangen. Sie zuckte nur hilflos mit den Schultern.

Plötzlich richtete sich Thomas im Sitzen auf, sah Heike groß an. „Aber etwas von damals hast du doch noch, Schatz. Denk mal an dein dickes Buch. Dein Allerheiligstes!“

„Ach ja!“ Heike sprang auf, ging zur Bücherwand und nahm ein dickes, altes Wörterbuch heraus. „Dass ich da nicht sofort dran gedacht habe... Es ist das einzige Stück meiner frühen Kindheit, das ich anfassen kann. Und lesen.“ Heike legte das Wörterbuch gut sichtbar auf den Tisch, öffnete es dann behutsam. „Da ist es. Das da trug ich damals bei meiner Rettung um mein Handgelenk gebunden. Ich habe es bis heute wie meinen Augapfel gehütet.“

Violas Schrei schallte von den Wänden wieder. Sie stürzte zum Tisch, starrte auf das schmale Leinenband, das zwischen den Buchseiten gelegen hatte. Sie wollte das Band, auf das mit rotem Faden Wörter gestickt waren, dicht an ihre Augen nehmen, aber Heike hielt sie zurück. „Nicht, Viola! Es fällt sonst auseinander, es ist schon so alt.“

Auch Anna war aufgesprungen. Sie hielt Viola fest, die wankte.

„Das Band! Anna, sieh das Band da! Wie das meine. Nur in Rot!“ Viola war im Nu bei ihrem kleinen Lederrucksack, nestelte mit zitternden Händen die Bänder auf, zog ein flaches, rotes Kästchen heraus. Dann legte sie ihr Armband mit dem von ihrer Mutter gestickten Spruch vorsichtig neben Heikes Armbändchen auf die Buchseite.

„Da tut sich aber nun die Erde auf.“ Thomas Lavals Stimme klang fassungslos. Und während er den aufgestickten Spruch von dem einen Band vorlas, kontrollierte sein fliegender Blick, ob er wirklich mit dem auf dem anderen Band übereinstimmte.

„Immer, wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her; dass du deinen Weg erkennst, und nicht in die Irre rennst.“ Zwischen seine Brauen grub sich eine Falte, während er sich zu erinnern suchte. „Aber der Spruch lautet ursprünglich in seinem zweiten Teil eigentlich anders, nicht?“

„Ja.“ Viola, deren Knie nachgaben, ließ sich in einen Sessel fallen. Ihre eben noch kreideweißen Wangen färbten sich nun rosa in Aufregung. „Meine Mutter hat ihn umgedichtet, weil er ihr zu kitschig war. Daran kann ich mich noch dunkel erinnern.“

„Mutter?“ Heikes Stimme klang wie ein Gurgeln. Mit aufgerissenen Augen sah sie Viola an.

„Deine Mutter?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, meine Mutter.“

Wieder lähmte das Unfassbare jedes Wort. Endlos erscheinende Sekunden lang. Diesmal war es dann Troll, der den eingeschlagenen Blitz ableitete. Er hob sein Cognacglas, das er in der Zwischenzeit schon fünfmal geleert hatte, und hielt es Viola und Heike entgegen. „Ich ahne, ahne, dass ihr beiden Hübschen euch darauf einigen müsst, unsere Mutter zu sagen…“ Mit unsicherem Grinsen kippte er sein sechstes Glas. “Sakra aber auch!“

Nun überschlugen sich die Stimmen. Niemand konnte sich mehr verständlich machen. Jeder redete auf jeden ein. Das ging eine Viertelstunde so, bis Thomas Laval schließlich seine flache Hand den Tisch schlug. „Ruhe, Leute!“ Seine Stimme verlor die Heiserkeit der Erregung. „Lasst uns überlegen, was wir tun sollen.“ Und endlich besänftigten sich die überschäumenden Gemüter, es wurde fast andächtig still. Vier Augenpaare sahen Thomas erwartungsvoll an. Der fasste alle Ereignisse der letzten zwei Stunden sachlich zusammen, doch wenn er seine Heike zwischendurch ansah, glitzerte es feucht in seinen Augenwinkeln. „Es besteht also die Möglichkeit, dass sich die Ähnlichkeit zwischen Viola und Heike auf eine völlig überraschende Weise klärt“, schloss er schließlich. „Und wenn es so kommt, wie es jetzt noch unausgesprochen in unseren Köpfen schwirrt, dann hätten wir auf Jahre hinaus etwas zu feiern.“ Er strahlte Heike und Viola an. „Mensch, das wäre eine Sensation, -eine Verwechslung damals in der Hektik… Sieht ganz so aus.“ Er wurde wieder ernst. „Dafür müssen wir den Steward ausfindig machen. Er muss die Ereignisse von damals noch einmal schildern. Wo genau er Heike aufgefischt hat. Ob er sich an die Kabinennummer erinnern kann. Oder an mehr.“

Viola hatte sich erhoben und stand jetzt neben Heike, die wieder auf dem Sofa saß. Scheu legte sie ihr die Hand auf die Schulter, ließ sie dort ruhig liegen.

Anna suchte hastig nach einem Taschentuch, als sie sah, dass Heike ihr Gesicht zu Viola hinauf hob, sie mit langem leuchtendem Blick ansah. Dann legte sie ihre Hand auf Violas, ließ sie dort liegen, wie ermattet nach einer langen Reise.

„Verdammt, hat denn hier niemand ein Taschentuch?“ überspielte Anna ihre Rührung schließlich mit scheinbarer Grobheit. „Wenn keiner eins hat, dann gib mir wenigstens einen doppelten Cognac, Troll.“

Thomas Laval suchte nach seinem Handy, tippte auf dem Display herum und deutete dann den anderen im Raum mit an die gespitzten Lippen gelegtem Finger an, ruhig zu sein. „Laval“, meldete er sich schließlich. „Habe ich die LGC Forensics in der Stolberger Straße am Apparat? Ja schön, dann hätte ich gerne Herrn Doktor Kaiser gesprochen. Sagen Sie nur, wenn er sagt, er hätte keine Zeit, Thomas Laval sei am Apparat.“ Thomas sprach dann etwa zehn Minuten sehr konzentriert, fragte und antwortete präzise. Schließlich klappte er den Deckel seines Handys zu und strahlte in vier aufgerissene Augenpaare hinein. „Das war das Institut für Blutgruppenforschung. Mein alter Freund, Doktor Kaiser.“ Er sah Heike und Viola an. „Morgen früh nichts essen. Und so früh wie möglich in der Stolberger Straße sein. Zur DNA-Analyse. Dann wissen wir morgen gegen Abend, ob sich unser Verdacht, was eure Ähnlichkeit angeht, erhärtet oder nicht.“

„DNA-Analyse?“ Violas Wangen färbten sich rot vor Freude. „Aber so schnell kriegt man doch kein Ergebnis.“

Thomas Laval lachte. „Du hast recht. Wenn man Speichelproben einschickt, dauert es bestimmt zehn Tage, vor Ort drei. Ihr aber wisst es schon morgen.“ Er wandte sich an Heike. „Das ist Doktor Kaiser aus unserem Karnevalsverein. Der soll ruhig mal was für unser früheres Tanzmariechen tun. Und im Übrigen sind wir hier in Köln und leben nach dem Motto: Man kennt sich, und man hilft sich. Nicht?“

„Du bist und bleibst der Größte, Schatz.“ Heike küsste ihren Mann stürmisch auf die Lippen. Dann wandte sie sich an Viola, Anna und Troll. „Ihr fahrt natürlich heute nicht mehr zurück. Oben unter dem Dach haben wir für solche Fälle vorgesorgt. Da hat schon manchmal der halbe Karnevalsverein übernachtet, wenn niemand mehr fahren wollte. Oder konnte.“ Heikes Lachen perlte hell. Immer wieder drückte sie verstohlen Violas Hand.

„Dann musst du aber noch Cognac besorgen, Tommi!“ dröhnte Troll. Er stand vor Thomas und drehte die leere Flasche auf den Kopf, um zu zeigen, dass sie leer war.

„Hab genug im Keller, Alter. Die trinkst auch du nicht aus.“

„Hoho! Wenn du dich da nur nicht irrst!“ Thomas ging leicht in die Knie, als ihm nun Trolls schwielige Rechte ungebremst auf die Schulter krachte.

 

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