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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 43

 

Heike Laval setzte sich auf ein zweisitziges Sofa, das mit buntem Baumwollstoff bezogen war.

Neben sie ließ sich Thomas nieder, gegenüber saßen Viola, Anna und Troll. Keiner von ihnen hatte sich entspannt zurückgelehnt. Sie saßen auf der vorderen Hälfte der Sitzfläche. Die Anspannung lag auch deutlich in ihren Gesichtern, als Heike Laval tief Luft holte.

„Also, nun zu mir. Das wird eine längere Geschichte. Leider.“ Ein wehmütiges Lächeln huschte um ihre Lippen. „Ich bin in Kiel oben an der Ostsee geboren und aufgewachsen. Nach Köln kam ich erst nach dem Abitur, als ich von der hiesigen Fachhochschule mit ihrer Fakultät Architektur hörte.“ Heike stieß Thomas mit dem Ellbogen an. „Und wenn mich dieser Egoist

hier neben mir nicht mit Eroberung und Heirat vom Studium abgehalten hätte, wäre ich sicher schon längst weltberühmt.“ Heikes Lachen perlte wieder.

Thomas Laval fing ihren Ellbogen ab. „Fräulein Heike vom Lindenbaum, würdest du jetzt bitte in deiner Schilderung fortfahren? Sonst erfahren wir nie, welche Laune der Natur es war, die Viola und dich so ähnlich hat aussehen lassen. Ähnlich schön, muss ich gestehen.“

„Sag mal, wieso sagte Thomas eben Heike vom Lindenbaum?“ fragte da Anna. Sie war noch näher an die Kante ihres Sessels gerutscht.

„Das habe ich noch nicht erzählt, richtig.“ Heikes Gesicht überflog ein Schatten. „Das ist mein Mädchenname. Klingt ziemlich komisch, ich weiß. Aber meine Eltern fanden ihn wohl gut, sonst hätten sie ihn bestimmt mal ändern lassen. Später ging das nicht mehr, denn dann passierte das Unglück, das meine Eltern das Leben kostete.“ Heikes Blick ging zu Viola. „Ich bin auch Vollwaise. Na, dann brauche ich dir ja nicht zu schildern, wie das ist, wenn man keine Familie hat.“ Heike stockte plötzlich, weil sie Annas erschrockenes Gesicht sah. „Ist dir nicht gut, Anna?“ fragte sie besorgt.

„Heike vom Lindenbaum!“ Anna wiederholte flüsternd den Namen. Dann hetzte ihr Blick zu Viola. „Veilchen, erinnere dich bitte. Heike vom Lindenbaum…“

Jetzt wurde auch Viola bleich. Erschrocken hielt sie sich ihre Hand vor den Mund. Sie nickte Anna zu. „Hieß so nicht das Mädchen von der Fähre, das der Steward bei dem Unglück gerettet hat?“ Viola rutschte in ihrem Sessel ebenfalls bis an die Kante.

„Was-was erzählt ihr da?“ rief Heike und klammerte sich an den Arm ihres Mannes. „Thomas, wieso wissen die beiden von meiner Lebensgeschichte? Ich habe doch noch gar nichts davon erzählt!“

Thomas Laval drückte beruhigend den Arm seiner jungen Frau. Dann straffte er sich, sah Anna und Viola angespannt an. „Was hat es mit dem Fährunglück auf sich?“ fragte er rau. „War das womöglich die…?“

„Baltica“, rutschte es Viola heraus, bevor Thomas zu Ende sprechen konnte. „Sie hat auch mit meiner Lebensgeschichte zu tun, Heike und Thomas. Meine Mutter und meine kleine Schwester Nadine sind bei dem Unglück ertrunken.“

„Nein!“ Es war ein Schreckensschrei, der jetzt Heike über die Lippen kam. „Deine Mutter und…?“

„Meine jüngere Schwester, ja.“ Viola griff hilfesuchend nach Annas Hand. „Aber sag, was passierte mit dir nach der Rettung, Heike?“ Violas Gesicht wechselte die Farbe zu einem hektischen Rot.

„Tommi, hilf mir doch“, bat Heike heiser. „Das kann doch alles nicht wahr sein, was jetzt hier passiert. Es ist ja wie in einem Albtraum.“

„Albtraum…“ Viola presste ihre Finger in Annas Arm. „Mein Albtraum, Anna“, keuchte sie. „Die Frau mit meinem Gesicht, die mir was sagen wollte…“

Anna streichelte über Violas Handrücken. „Bitte, Heike, erzähl weiter“, bat sie eindringlich. „Was passierte dann?“

Heike fand zurück, strich sich über die Stirn. „Tja, dann sprach mich das Gericht einer Pflegefamilie zu. Max und Johanna aus Kiel. Da hatte ich es gut. Gott sei Dank leben die wenigstens noch. Aber woher wisst ihr alles so genau von dem Untergang der Baltica und auch von dem Steward, der mich rettete?“

Viola wies auf Anna. „Anna hat in allen Archiven von Tageszeitungen und Illustrierten danach geforscht und viele Berichte und Fotos gefunden.“ Ein dankbarer Blick traf Anna. „Ja, wenn ich sie nicht schon so lange Jahre hätte…“

„Wo hast du die Berichte und Fotos, Anna?“ schaltete sich nun Thomas Laval wieder ein. „Da scheint sich ja ein wildes Kettenkarussell der Schicksale zu drehen.“

„Zu Hause in Aachen. Alles gescannt und in meinen Dateien. Ich kann nichts wegwerfen.“ Anna sah sich suchend im Raum um. „Sagt mal, Thomas und Heike, habt ihr einen Computer hier rumstehen?“

„Er beißt dich fast. Da, neben deinem Sessel.“ Thomas wies auf seinen Schreibtisch

„Fahr ihn mal eben hoch, dann kann ich euch alles sofort zeigen.“

„Wie denn das?“ zweifelte Thomas. „Technisch, meine ich.“

Anna lachte. „Wir vom Naturschutzbund werden oft für etwas der Zeit hinterher hinkend gehalten. Das Gegenteil ist der Fall. Der NABU ist mit der neuesten Spitzentechnik ausgestattet. Ich muss doch überall, wo ich beruflich bin, an meine Dateien herankommen. Ihr seht, es scheint sich jetzt zu lohnen.“

Thomas nickte und fuhr den Rechner hoch. Und so standen wenige Minuten später Heike, Thomas, Viola und Anna vor dem Monitor und sahen atemlos das ganze Fährunglück in Fotos und Artikeln vor sich. Lähmendes Entsetzen machte sich breit. Niemand von ihnen sagte ein Wort. Troll winkte ab, als Thomas ihn herbeiwinken wollte. Er erhob sich ächzend und nahm einfach eine Cognacflasche aus dem offenen Barfach eines Regals.

„Das ist zu viel für einen alten Mann“, keuchte er. „Ich tue jetzt nichts mehr ohne Schnaps.“

 

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