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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 39

 

An dem Tag, den Viola lange nicht vergessen sollte, hatte sie in der Bäckerei Frühdienst. Sie liebte diese Schicht, weil sie dann nachmittags noch in die Heide oder an das Moor fahren konnte.

Es war gegen acht Uhr am Morgen. Viola packte gerade im Nebenraum übriggebliebene Brote vom Vortag in einen großen Papiersack, als sie das Klingeln der Ladentür hörte. Sie wusch sich ihre Hände und ging nach vorn hinter die Verkaufstheke. Doch zu ihrer Verwunderung sah sie niemanden im Laden. Sie rief: „Hallo!“ Und als sie immer noch niemanden sah, wandte sie sich wieder zum Gehen. Doch dann stockte ihr Schritt.

„Hallo, Viola“, hörte sie deutlich Oles leise Stimme, und da tauchte er auch schon neben der Theke auf, sah Viola mit unsicherem Lächeln an. „Hier bin ich!“

„Das sehe ich ja nun.“ Viola ließ sich auf ein Knie nieder, sodass sie auf Oles Augenhöhe war. „Was machst du denn so früh am Morgen hier?“ Ohne dass es ihr bewusst wurde, sprach sie nun genauso leise wie Ole. „Bist du alleine?“

Ole nickte. „Henrik ist mit dem Wagen zur Tankstelle im nächsten Dorf. Dafür braucht er bestimmt zehn Minuten. Erholt mich dann drüben an der Kirche ab und fährt mich zum Kindergarten.“ Ole nestelte eine Papiertüte aus seinem Frühstücksbeutel, auf der unübersehbar „Café Burgblick“ stand. „Tu mir schnell vier Brötchen in die Tüte hier, Viola“, bat Ole dann aufgeregt.

„Henrik hat nämlich gesagt, ich soll die Brötchen nicht bei euch, sondern drüben bei Burgwinkel kaufen. Und wehe, ich würde das nicht tun…“ Ole zog den Kopf ein, aber er lachte spitzbübisch.

Viola erhob sich, steckte die vier Brötchen in die Tüte und war schnell wieder bei Ole unten. Als Ole umständlich nach seiner Geldbörse suchte, stoppte ihn Violas Hand. „Lass nur, Ole. Ich leg das Geld dafür in die Kasse.“ Sie strich ihm die rotblonden, widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Lass sie dir gut schmecken.“

Ole nickte, dann knöpfte er nervös sein kurzärmeliges Sommerhemdchen an der Brust auf und zog eine DVD in einer durchsichtigen Plastikhülle heraus. „Hier hab ich noch was, Viola.“ Oles Stimme war jetzt noch leiser. „Ich habe dir deine DVD aus unserem DVD-Player unter dem Fernseher mitgebracht. Hier, nimm sie wieder.“

Viola war so verblüfft, dass sie nach der DVD griff, die Oles kleine Hand ihr hinhielt. „Eine DVD?“ fragte sie leise. „Wieso meine?“

„Henrik brüllte gestern, als ich sie aus dem Player nehmen wollte, weil ich meine Dschungelbuch-DVD sehen wollte: Fass bloß Violas DVD nicht an!“

Viola fühlte eine plötzliche Last, die sich schwer auf ihre Schultern senkte. Sie erhob sich mit weichen Knien, zog den nächsten Stuhl von einem der Tische heran und ließ sich darauf fallen. Erschrocken sah sie Ole an, der nun auf sie zu kam und sich mit dem Bauch an ihre Knie lehnte. „Weißt du, Viola“, sagte Ole, „Henrik ist immer ganz durcheinander, wenn er deine DVD gesehen hat. Dann fängt er auch oft Streit mit mir an, wo ich doch gar nichts dafür kann. Und manchmal weint er auch.“ Ole senkte den Kopf. Seine Stimme war kaum noch zu verstehen.

Die DVD in Violas Hand wollte ihr plötzlich die Handfläche verbrennen. Hastig legte sie sie auf den Tisch neben sich. Ihr Atem ging schwer. Die Vorstellung, dass Henrik wegen etwas ihr Unbekanntem so sehr litt, dass ihm Tränen liefen, stach wie eine Dolchspitze in ihre Brust.

Ole nahm Violas Hand aus ihrem Schoß und spielte wie abwesend mit ihren Fingern. „Aber Gott sei Dank musst du ja nicht auch weinen, wenn du deine DVD anguckst. Du kennst

sie ja bestimmt, und du hättest sie Henrik bestimmt  nicht gegeben, wenn du gewusst hättest, dass er dann weinen muss, nicht, Viola?“

„Hast du die DVD denn gesehen?“ fragte Viola. Sie erschrak, weil jetzt draußen ein Auto hielt. Bloß jetzt keinen Kunden! dachte sie nervös. Nicht einen einzigen! Sie atmete auf, als der Wagen draußen wieder startete und davonfuhr.

„Nein“, antworte Ole leise und ließ nicht von ihrer Hand ab. „Bloß nicht, sonst werde ich vielleicht auch so wie Henrik jetzt. Beinahe hätte er dich vor der Kirche überfahren, nicht? Er fährt jetzt immer so schnell und passt nicht auf.“

„Es ist ja gut gegangen, Ole.“ Viola schluckte den Rest ihres Zorns über den Beinahe-Unfall an der Kirche hinunter. „Sag mal, was wirst du Henrik denn sagen, wenn er dich fragt, wo seine-wo meine DVD geblieben ist?“

Ole richtete sich gerade auf. Plötzlich war nichts mehr von dem anlehnungsbedürftigen kleinen Jungen an ihm, der gerade noch mit Violas Fingern gespielt hatte. „Ich sage es ihm so, wie es ist“, antworte er mit blitzenden Augen. „Ich will doch, dass es ihm bald wieder besser geht, dass er nicht mehr so traurig ist. Und mich auch nie mehr fragt, ob ich ein bisschen doof sei.“ Ole schob kämpferisch das Kinn vor.

„Hat er das?“ Viola atmete tief auf, als sich nun ein listiges Lächeln um Oles Lippen legte.

„Ja. Dabei hab´ ich mich gestern nur versprochen. Ich hab gesagt: Ich hole dann jetzt unsere Brötchen bei Wolfgarten. Ich meinte aber Burgblick. Da hat Henrik das mit dem Doofsein gesagt.“ Ole hielt triumphierend die Brötchentüte in die Höhe. „Aber ich bin schlauer, als Henrik glaubt. Ich hab nämlich gestern die Tüte von Burgblick aufgehoben und versteckt. Heute hab ich sie unter meinem Hemd versteckt, damit Henrik glaubt, ich hätte alles so gemacht, wie er es will. Und so merkt er nicht, dass ich bei dir war. Cool, nicht?“

Nun musste Viola doch lachen, und es tat ihr unendlich gut. Sie zog Ole an sich und legte lange ihre Arme um ihn. Ole stand ganz still da und hielt die Augen geschlossen. Bis Viola plötzlich erschrocken rief: “Ole, du musst los! Die zehn Minuten sind um!“

Ole nickte und ging langsam zur Ladentür. „Aber schade“, sagte er leise und langgedehnt. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Viola um. „Kommst du uns denn irgendwann wieder immer besuchen, wie-wie früher?“

Viola konnte Ole in diesem Moment nicht belügen. So hob sie langsam die Schultern und

ließ sie dann ratlos fallen. „Ich weiß es nicht, lieber Ole“, setzte sie weich hinzu. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Wünscht du dir es denn wenigstens?“ ließ Ole nicht locker.

Und wieder antwortete Viola mit der Wahrheit: „Ja, Ole“, gestand sie mit fester Stimme. „ich wünsche es mir. Sehr sogar.“

Ole schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Dann geht es auch in Erfüllung, Viola, sollst sehen.“ Er nickte Viola aufmunternd zu, tippte grüßend an die Stirn und öffnete die Tür. Draußen lachte er, und Viola konnte ihn laut über den Marktplatz rufen hören: “So, kluger Henrik Olsen, hier kommen deine Brötchen! Wie befohlen vom Café Burgblick natürlich... Ha! Selbst schuld!“

 

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