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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 38

 

„Sie sind ja immer noch so blass, Viola“, empfing Frau Wolfgarten ein paar Tage später Viola, als diese zur zweiten Schicht kam, die um 10 Uhr morgens begann. „Gehen Sie gar nicht mehr in die Sonne?“

Viola hängte ihre leichte bunte Weste auf einen Bügel. Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Doch schon. Ich bin wieder draußen in der Heide. Eigentlich bin ich da der Sonne näher, aber…“ Viola brach ab.

Frau Wolfgarten streichelte Viola über den Arm. „Ja eigentlich. Ich hab schon verstanden. Aber Ihre Wetterbräune stand Ihnen stets gut. Jetzt gehen Sie erst einmal mit den Einnahmen vom Wochenende hinüber zur Sparkasse und zahlen sie ein, ja?“ Und auf Violas fragenden Blick hin setzte sie hinzu: „Ich weiß, das ist jetzt eine Vertrauensstelle, die Sie hier haben. Aber selbst wenn Sie mit der Kasse durchbrennen würden, weit kämen Sie mit den paar Scheinen nicht. So eine Kraft wie Sie würde ich gern behalten. Aber Ihre Zeit bei uns hier ist begrenzt, ich weiß.“

Viola nickte nur, nahm die schmale Ledertasche mit den Einnahmen und überquerte den kleinen Marktplatz in Richtung Sparkasse. Als sie ein paar Minuten später herauskam und im Vorraum die Quittung in die Ledertasche steckte, fiel ihr Blick auf Henriks Skulptur, die dort immer noch auf ihrem Sockel stand. Violas Schritt lenkte sich wie ferngesteuert vor die hölzerne Skulptur. Sie sah wieder die seltsamen Augen des blinden Sehers. Die Augen, die nur scheinbar nichts sahen, und in denen sich doch das ganze Weltgeschehen widerzuspiegeln schien. Viola sah sich um, und als sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, tasteten ihre Fingerspitzen behutsam über das glatte Lindenholz der Skulptur. Hier haben Henriks Hände gearbeitet, dachte sie. Hier haben sie modelliert, poliert, die Glätte des Holzes ertastet. So wie sie die Glätte meiner Haut ertastet haben. Viola fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Ihr Atem wurde schneller, hob und senkte ihre Brust.

Ich muss zurück, ging es ihr dann durch den Kopf. Frau Wolfgarten wird sich schon fragen, wo ich bleibe. Viola hastete über den Vorplatz der Sparkasse. Hinter einem parkenden Lastwagen wollte sie eilig die Straße zur Bäckerei überqueren.

Den dunkelgrünen Pickup, der in diesem Moment zu schnell heran sauste, sah sie erst im letzten Augenblick. Sie schwankte, ihre Schuhsohlen pressten sich auf den Asphalt, dann stand sie sicher. Nur wenige Zentimeter an ihrem Gesicht flog der Außenspiegel von Henriks Wagen vorbei.

„Auweia!“ schrie Ole, der im Pickup in seinem Kindesitz saß und Violas entsetztes Gesicht vorbeihuschen sah. „Henrik, pass doch auf!“

Henrik bremste erschrocken, doch in der Zwischenzeit war der Wagen schon an der Kurve, die um die Kirche führte. „Was ist denn los?“ rief Henrik unwirsch.

„Du hast grad beinahe Viola überfahren!“ brüllte sein Sohn ihn mit hochrotem Kopf an. „Da-dahinten ist sie.“ Er deute durch das Rückfenster.

Henriks Kopf schnellte herum. Er sah Viola am Straßenrand stehen und sich an einem Pfahl der Straßenbeleuchtung festhalten. Eine kalte Hand griff nach ihm, machte ihn unfähig, sich zu bewegen. Du musst aussteigen! hämmerte es hinter seiner Stirn. Es ist deine Schuld, du warst viel zu schnell. Du musst dich um sie kümmern.

Aber der Berg der Abwehr, den diese unselige DVD mit Viola in Köln in ihm aufgeworfen hatte, war zu hoch. Henrik fühlte, dass er jetzt nicht vor Viola hintreten konnte, egal, was passiert war. So sah er mit Erleichterung, dass Viola nun mit noch unsicherem Schritt die Straße überquerte und auf die Bäckerei zuging. Er startete den Pickup wieder und lenkte den Wagen nun langsam aus der Stadt.

Ole war in sich zusammengesackt. Bis zu Hause sagte er kein Wort und starrte aus dem Seitenfenster.

„Tut mir leid, Ole“, entschuldigte Henrik sich, als er vor dem Haus den Zündschlüssel abzog.

„Ich weiß, das war alles nicht gut von mir.“

„Du musst dich bei Viola entschuldigen. Sie hat unseren Wagen und uns erkannt, ich habe es gesehen.“ Ole hatte schon den Türgriff in der Hand. Er sah seinen Vater wütend an.

„Gut, mache ich. Ich weiß zwar noch nicht wie und wann, aber ich werde es wohl machen müssen.“ Henrik Olsen seufzte und öffnete die Tür an seiner Seite.

„Ja, musst du. Unbedingt. Sonst ziehe ich mit Tiger zu Troll.“

Ole sprang auf den Boden hinunter und knallte mit aller Kraft die Tür hinter sich ins Schloss.

Henrik folgte ihm ins Haus. Früher hätte er sich in einer solchen Situation über die Reaktion seines Sohnes gefreut. Doch heute hielt der Schreck über das Geschehene ihn noch fest in seinen Klauen. Immer noch sah er Viola wie vorhin durch das Rückfenster, als sie sich an den Laternenpfahl klammerte.

Henrik wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den Schweiß, der nicht von der Sommerhitze kam. Er war schreckenskalt.

 

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