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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 37

 

„Das hätte ich mir ja denken können, dass du schon hier bist. „Mit diesen Worten betrat Henrik am nächsten Morgen den Frühstücksraum in der Pension, wo Ole schon am Nachbartisch stand und mit Micha in einem Buch blätterte. „Sind wir immer noch allein morgens?“ fragte er dann, und sein Blick ging zu den anderen Tischen, die nicht zum Frühstück eingedeckt waren.

„Übermorgen wird das Haus voller“, warf Frau Buchholz ein.

 „Guten Morgen, Henrik.“ BarbaraRauters nickte Henrik freundlich zu.

„Pardon. Guten Morgen, alle beide.“ Henrik setzte sich und zog für Ole den Stuhl zurecht.

„Guck mal, Henrik, was Micha für ein tolles Buch hat.“ Ole kam mit Michas Buch an den Tisch  und blätterte aufgeregt darin. „Alles Vögel. Ganz, ganz viele. Und Micha kennt die meisten. Toll, nicht?“

„Mama kennt mehr als ich“, setzte Micha am Nachbartisch in seiner ruhigen, überlegten Art hinzu.

„Gib nicht so mit mir an, Micha.“ Barbara Rauters zog ihren Sohn in seinem Rollstuhl näher an den Tisch. „Ist doch kein Wunder, wenn man Biologin ist.“

„Bio-Biologin!“ rutschte es Ole spontan heraus. „Wie Viola!“

Der Kaffeelöffel, mit dem Henrik Olsen gerade die Milch in seiner Tasse verrührte, klirrte scheppernd gegen die Tassenwand. Eine steile Falte grub sich zwischenseine Augenbrauen. Barbara Rauters entging dies alles nicht. „Lass dir mal von Micha den seltenen Vogel mit dem schrecklichen Namen Raubwürger zeigen, Ole“, lenkte sie ab. „Den haben wir beide gestern auf einem Zaunpfahl gleich hier vor dem Deich hinter den Salzwiesen entdeckt.“

Micha nahm das Vogelbuch aus Oles Hand und blätterte, bis er auf einer Seite einen fast weißen, amselgroßen Vogel mit schwarzem Augenstreifen entdeckte. „Hier ist er. Es gibt von ihm in ganz Deutschland nur noch zweitausend Stück.“ Micha ließ es sich gefallen, dass Ole ihm wie einem alten Freund den Arm auf die Schulter legte, obwohl er sich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste.

„Ist zweitausend viel, Micha?“fragte Ole und bestaunte den seltenen Vogel.

„Hm.“ Micha Rauters rieb sich die Nasenspitze. „Also-zweitausendmal Schulaufgaben machen ist viel. Aber zweitausendmal Schokoladeneis essen ist wenig.“

Henrik und auch Barbara lachten, dass Frau Buchholz ihren Kopf aus der angrenzenden Küche hereinsteckte und fragte, ob alles in Ordnung sei. „Alles in Ordnung!“ rief Henrik lachend, worauf Barbara ihn erstaunt ansah. „Sie können ja richtig lachen, Henrik“, staunte sie.

Henriks Lachen flog davon. Er zog die Schultern zusammen und starrte in seine Kaffeetasse.

„Entschuldigen Sie, Henrik.“ Barbara Rauters machte ein bedrücktes Gesicht. „Aber Sie wissen, dass man vor seinen Gefühlen nicht davonlaufen kann.“

„Tu ich das denn?“ fragte Henrik leise in seine Tasse hinein.

„Nach dem, was ich in der kurzen Zeit hier mitbekommen habe, ja. Ich mag Sie irgendwie, sonst hätte ich das eben nicht gesagt.“

Henrik atmete tief durch. „Ist schon in Ordnung, Barbara.“ Er sah sie nun direkt an. „Sie meinen also, ich sollte lieber abreisen und meine Probleme zu Hause klären?“

„Was die Probleme angeht, die mit dem Buchstaben V beginnen, ja.“

Henrik Olsen rührte immer noch in seiner Kaffeetasse herum und sah dabei gedankenverloren durch das Fenster zum Deich hinauf, auf dem sich weidende Schafe gegen den tiefblauen Himmel abhoben. „Und die beiden, die sich gerade gefunden haben, wieder trennen?“fragte Henrik dann und zeigte auf Micha und Ole, die nicht auf die Erwachsenen achteten und ihre Nasen tief in das Vogelbuch steckten.

„Ach, unsere Zeit hier ist morgen sowieso vorbei.“ Barbara Rauters strahlte nun. „Mein Mann rief heute schon früh an und gestand, dass er nun nach fast drei Wochen genug von einem stillen Haus und von einem nicht angewärmten Bett habe.“ Sie senkte ihre Lautstärke zum Flüstern. „Dass ich das mal von ihm hören würde nach so langen Ehejahren, hätte ich nicht mehr erwartet. Aber schön ist es.“

Henrik nickte. Vielleicht kommen Sie alle drei uns mal besuchen“, schlug er dann vor und fegte Krümel von seinem Set. „Platz habe ich genug, und Micha findet rund um die vielen Talsperren bei uns und auch im angrenzenden Vorgebirge viele schöne Wege, auf denen er ohne Probleme fahren kann.“

„Schon angenommen, Henrik. Bert, mein Mann, wird sich sicher auch sehr für den neuen Nationalpark interessieren.“

„Ole wird nicht lockerlassen, bevor Sie nicht bei uns sind.“ Henrik reichte Barbara seine Adresse und Telefonnummer, die er auf einen Untersetzer notiert hatte.

An diesem Tag absolvierten Ole und Henrik ein großes Programm. Sie besuchten sowohl die Spielscheune, als nachmittags auch das neue Naturschwimmbad mit feinem Sandstrand, das man vor dem Deich angelegt und ihm den passenden Namen Nordseelagune gegeben hatte.

Erst nach dem Abendessen, als Henrik seinen Pickup hinter dem Nachbarort auf den Deich gefahren hatte, wo er mit Ole die Abendstimmung mit der im Meer versinkenden Sonne genießen wollte, kamen die beiden zur Ruhe. Schweigend saßen sie im trockenen Gras auf dem Deich und lauschten den müde werdenden Rufen der Vögel des Wattenmeeres zu und bestaunten die wechselnden Farben des Abendhimmels

„Morgen fahren Barbara und Micha“, sagte Henrik schließlich im Halbdunkel. „Weißt du es?“

„Ja.“ Ole umschlang seine nackten Knie mit den Händen. „Aber ist ja nicht schlimm, sie kommen uns ja bald besuchen, hat Barbara gesagt. Das hast du doch nicht nur im Spaß gesagt, Henrik, oder?“

„Nein, das war ernst gemeint.“

„Dann ist es ja gut, Henrik.“ Ole sprach nun sehr leise. „Weißt du, so einen Freund wie Micha hatte ich noch nie.“

„Obwohl du ihn erst seit kurzem kennst?“

„Barbara hat gesagt, das macht nichts. Entweder stimme bei so was alles immer sofort–oder nie.“

„Kluges Mädchen.“ Die Trauer um Viola  legte sich wieder um Henriks Herz. Es zog sich schmerzhaft zusammen, und er konnte nichts dagegen tun. „Wie lange wollen wir denn eigentlich noch bleiben, Ole?“ fragte er plötzlich. im Dunkeln. „Ich meine, wir sind ja erst seit einer Woche hier.“

„Du meinst, wir sollten auch bald nach Hause fahren, Henrik?“

Henrik legte seinen Arm um die kleine Gestalt neben sich auf dem Deich und zog sie dicht an

sich heran. „Bist ein ganz Kluger, Ole. Sollten wir also? Ich meine, ich hätte nichts dagegen.“

„Au ja!“ Ole klatschte begeistert in die Hände. „Ich könnte dann wieder im Kindergarten mit all den Kindern spielen, die ich kenne. Und ich könnte schon mal mein Zimmer aufräumen, damit es prima aussieht, wenn Micha kommt.“

Henrik lachte leise. Das ist ein guter Grund, dein Zimmer aufzuräumen. Also, dann machen wir es so.“ Er schaute zum Horizont hinüber, wo der letzte Lichtschein der untergegangenen Sonne verglüht war. Er atmete nun tief, ruhig. Seine Rechte drückte Ole leicht an sich. „Hab dich lieb, Ole“, flüsterte er bewegt.

„Ich dich auch. Henrik.“

 

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