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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 36

 

Anna und Viola saßen beim Frühstück draußen auf Violas Terrasse, als beider Handys in kurzem Abstand den Eingang einer Nachricht signalisierten. „Nanu? Wer hat denn da schon so früh Sehnsucht nach uns?“ rief Anna, wie immer schon morgens gut gelaunt. „Es wird doch nicht dein…?“ Sie brach ab, erschrocken über ihre vorschnelle Zunge. Aber Viola winkte ab und brachte ein kleines Lächeln zustande-wenn ihre Lippen jetzt auch viel schmaler als früher dabei waren. „Ach lass nur, Anna“, beschwichtigte sie die Freundin und kramte ihr Handy aus ihrem Rucksack, „es wird schon nicht Henrik sein. Keine Sorge.“

Anna eilte ins Haus und war schon wenige Augenblicke zurück. Demonstrativ hielt sie Viola  ihr Handy hin. „Von Troll. Er…..“

„Ich weiß. Ich habe die gleiche SMS bekommen. Troll weiß aber doch von mir, dass du hier bei mir bist, um mich und Maori weder auf die Beine zu bringen.“ Viola las ihre Nachricht, legte dann das Handy auf den Tisch. „So, Troll hat eine Information über Herrn Olsen.“ Viola lachte bitter auf. „Dass der überhaupt noch lebt! Ich fing gerade an, ihn für verschollen zu halten.“

„Troll will uns die Nachricht nicht über das Handy mitteilen, sondern persönlich. Na, das ist ja zumindest rücksichtsvoll“, ergänzte Anna und biss herzhaft in ihr Frühstücksbrötchen. „Aber gleich heute? So eilig? Haben wir denn überhaupt Zeit, Veilchen?“

Viola war noch mit Trolls SMS beschäftigt. Plötzlich  kam Leben in sie. Mit großen Augen sah sie die Freundin an. „Hast du alles gelesen? Auch die zweite Nachricht für uns? Troll hat die bei uns fast ausgestorbene Orchidee mit dem unschönen Namen Sumpfkraut entdeckt und fotografiert!“ Viola umarmte die Freundin, sie bebte vor Freude. „Er will uns die Orchideen und seine Fotos in der Heide am Brackmoor zeigen. Noch heute!“

„Solche Enthusiasten wie du, Veilchen, das sind genau die Leute, die die Natur braucht, um unbeschadet zu überleben.“

Viola hörte nicht hin. Sie stopfte sich eilig den letzten Bissen eines Brötchens in den Mund und eilte ins Haus. „Ich  mache schon das Futter für Maori fertig“, rief sie aufgeregt. „Dann können wir nachher pünktlich losfahren.“

So kam es, dass Viola und Anna bald darauf auf dem schmalen Pfad an der Ostseite des Moores der Landspitze zueilten, auf der sie Troll vermuteten. Und richtig, schon aus großer Entfernung konnten sie seinen neuen bunten Sonnenschirm entdecken, in dessen Schutz er nun seine Bilder malte.

Troll schlug sich vergnügt mit der Pranke auf die ausgebeulten Knie seiner dunkelbraunen Cordhose, als die beiden jungen Frauen schließlich vor ihm standen. „Da hätte ich meinen ganzen Weinkeller drauf verwettet, dass ihr beiden lange vor der verabredeten Zeit kommt. Bei den Nachrichten…“ Er deutete Viola und Anna an, sich irgendwo einen trockenen Platz zu suchen. „Frauen sind nun mal so was von neugierig!“

Viola starrte ein paar Minuten später auf das Display des kleinen Digital-Apparates, den Troll ihr hinhielt, dann brach sie in einen Jubelschrei aus und reichte Anna den Apparat. „Tatsächlich das Sumpfkraut! Eine streng geschützte Orchidee. Typisch die blassgelben Blüten! Woher wusstest du das, als du sie sahst, Troll?“

„Pah! Ich habe hier doch mein halbes Leben verbracht. Nicht nur ihr jungen Dinger kennt euch hier aus. Wenn auch unglaublich gut, muss ich schon sagen. Auch so ein alter Schrat wie ich hat ja Augen im Kopf.“ Viola und Anna prüften zufrieden die Auflösung der Fotos für spätere Poster. Dann führte Troll sie zu der versteckten Stelle, wo in einer kaum einzusehenden nassen Mulde tatsächlich noch einige dieser kleinen Orchideen wuchsen. Anna machte auch ein paar Aufnahmen, dann kehrten sie wieder zu Trolls Platz an der Staffelei unter dem Sonnenschirm zurück. „Henrik hat mir eine Ansichtskarte von der Nordsee geschrieben“, erzählte Troll, als er wieder auf seinem Stuhl saß. „Ich sollte sie keinem sonst zeigen, aber das tue ich ja auch nicht.“ Troll rieb sich die verschmitzt lachenden Wangen. „Er hat nichts davon geschrieben, dass ich auch nichts erzählen soll. Also mache ich das. Außerdem bin ich alt genug, um zu wissen, was ich verantworten kann. Hört zu.“ Viola und Anna erfuhren nun von Troll, wo Henrik und Ole sich aufhielten, wenn auch ohne genaue Adresse. Auch, dass Henrik Olsen plante, sein Haus in der Eifel zu verkaufen, um sich an der Küste in einem der Fischerdörfchen hinter den Deichen ein neues zu kaufen. „Nur den Wald mit seinen Bäumen würde er wohl vermissen“, endete Troll schließlich und schaute die beiden Frauen forschend an. Viola wirkte wie zur Säule erstarrt. Nur ihre Lippen zitterten.

Anna schnaubte und schob trotzig das Kinn vor. „Soll ihn doch der Teufel holen!“ rief sie laut. „Was Besseres hat der Herr gar nicht verdient. Ich meine natürlich diesen blinden, total seelenlosen Zombie in Menschengestalt. Ha!“

Troll nickte dazu. Dann trat er dicht vor Viola hin, hob mit seiner Rechten Violas Kinn behutsam an. „Sollst sehen, Mädchen“, sagte er leise, „bald wird wieder alles besser. Du hast du noch viele schöne Jahre vor dir.“ Viola schaute mit verlorenem Blick über Trolls Schulter hinweg zu den Birken und dunklen Wacholdersträuchern am Horizont hin. Sie schüttelte langsam den Kopf. „Im übernächsten Leben, Troll“, sagte sie leise. „Wieso nicht im nächsten?“ „Das ganze nächste brauche ich zum Vergessen.“

 

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