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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 35

 

Als Henrik Olsen den Pickup-Wagen die schmale, geteerte Zufahrt zur Deichkrone hinauf steuerte, regnete es. Der erste Regen seit Wochen. Der Scheibenwischer jaulte unwillig über die verschmierte Scheibe.

„Gerade jetzt“, brummte Henrik. und warf seinem Sohn im Kindersitz neben sich einen bekümmerten Blick zu. „Da wirst du heute nicht viel vom Meer sehen können, Ole.“

Aber er sollte sich irren. Als Henrik auf dem Deich hielt und den Zündschlüssel abzog, war Oles erste Reaktion auf das weite Meer vor sich, das er noch nie gesehen hatte, ein lautes, erregtes: „Boh, cool eh!“ Er öffnete die Tür, sprang hinaus und blieb vor dem niedrigen Zaun stehen, der die unzähligen Schafe am Deich daran hindern sollte, ins Hinterland hinunter zu laufen. „Guck mal, dahinten, die großen Schiffe, Henrik!“ Er wies auf die Wesermündung hinaus, in deren Fahrrinne Frachtschiffe und riesige Autotransporter ein-und ausliefen. „Und da hinten steht mitten im Wasser ein roter Turm. Warum geht der nicht unter, Henrik?“

Henrik Olsen lachte und war dankbar für diese kurze Ablenkung vom Schmerz um Viola,

der seit Tagen seine Brust in einen eisernen Reif spannte. Er hielt seinem Sohn behutsam die Pranke über den Kopf, um den Regen abzuhalten. „Das ist ein ehemaliger Leuchtturm, Kleiner“, sagte er zärtlich. „Darin brannte früher in der Dunkelheit ein Licht, damit die Schiffe nicht gegen das Ufer liefen und untergingen. Heute fahren die Schiffe alle mit Lotsen und Satelliten-Navigation. Das kennst du doch von unserem Navi im Auto.“

Ole nickte und sog die Weite mit all dem noch Unbekannten in sich auf. Bis Henrik ihn sanft an der Schulter rüttelte. „Komm, wir fahren jetzt wohl besser erst mal zu unserer Pension und sagen, dass wir angekommen sind. Heute Nachmittag machen wir dann unsere erste längere Entdeckungsfahrt, ok?“

Ole war mit dem Vorschlag zufrieden. „Mensch, ist das toll hier, Henrik“, bestätigte er heftig, als er wieder neben Henrik im Wagen saß. „Das war eine coole Idee von dir. Nur schade, dass Viola nicht mit konnte. Das würde ihr hier auch gefallen. Bestimmt.“

Oles Worte hätten beinahe dazu geführt, dass Henrik unten beim Einbiegen auf die schmale Straße hinter dem Deich den letzten Zaunpfahl umgefahren hätte, so sehr packten und schüttelten sie ihn.

Was mache ich denn nun in solchen Situationen, die sich wohl wiederholen werden? fragte er sich und versuchte, in dem eisernen Reif um seine Brust zu atmen. Ich kann Ole doch nicht davon abhalten, von Viola zu sprechen! Und das wird er öfter tun, wie ich das jetzt feststellen muss. Sie geht ihm nicht aus dem Sinn-wie auch mir nicht. Henrik knurrte “Verdammter Mist!“ und packte das Steuerrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

„Was ist verdammter Mist?“ wollte Ole wissen und sah seinen finster dreinblickenden Vater fragend von der Seite her an.

Henrik seufzte. „Ich werde heute oder morgen mal wegen Viola mit dir reden müssen, Ole“, gestand er und hielt vor der Pension Buchholz, die sich hinter den Seedeich in dessen Schutz schmiegte. „Du bist ja kein Baby mehr, Ole, du wirst bestimmt verstehen, was ich dir wegen Viola sagen werde.“

„Na klar, Henrik!“ Ole richtete sich im Sitzen auf. „Ich verstehe schon alles. Er öffnete die Tür und sprang aus dem hohen Pickup-Wagen.

„Du wirst nichts verstehen, mein Kleiner“, murmelte Henrik und sah seinem Sohn nach, der nun Frau Buchholz die Hand reichte, die die Haustür geöffnet hatte, um ihre neuen Gäste zu begrüßen. „Wie solltest du auch,  wo nicht mal ich es verstehe? Nichts kapiere ich, nichts.“ Er kletterte mit einem tiefen Seufzer aus dem Wagen.

Henrik drückte sich den folgenden Nachmittag und auch den Abend über davor, mit Ole über Viola und das, was vorgefallen war, zu sprechen. Er lenkte seinen Sohn davon ab, indem er

ihm den nahen kleinen Hafen zeigte, wo bunte Krabbenkutter auf die Flut warteten, um zum Fischen auslaufen zu können. Von der letzten Landspitze aus, die dem Meer trotzig ihre lange Zunge zeigte, konnten sie trotz des Regens weit über das bleigraue Wattenmeer hinaus blicken, wo in der Ferne die Schiffe zogen.

Ole setzte das Fernglas, das Henrik trotz ihrer überstürzten Abreise aus der Eifel nicht vergessen hatte, kaum ab. Seine helle, aufgeregte Stimme setzte sich gegen den unaufhörlichen Schwall von Vogelstimmen durch. „Guck mal, Henrik, da ganz hinten ist ein Schiff, das geht grad unter!“ rief er einmal und deutete auf den fernen Horizont hin.

Henrik, der erneut froh über die Ablenkung von seinen dunklen Gedanken war, lachte auf. „Das Schiff ist mit seinem Rumpf schon halb hinter dem Horizont und guckt nur noch mit der Brücke und den Masten darüber hinaus.“

Ole riss die Augen auf und setzte das Fernglas ab. „Brücke? Geht bis dahin eine Brücke?“

Henrik setzte sich auf eine Abbruchkante des Ufers ins trockene Gras und deutete neben sich. „Komm, setz dich. Ich erklär dir das mal.“ Er ballte eine Faust zur Kugel. „Sieh mal her. Stell dir vor, das hier ist die Erdkugel.“ Und in den nächsten Minuten erfuhr Ole alles über die Erdkrümmung, den Horizont, über Entfernungen in Seemeilen und wie lange man Schiffe noch sehen kann, bevor sie hinter dem Horizont verschwinden.

„Boh, cool eh!“ Ole bedachte Henrik mit seinem neuen Schlagwort aus dem Kindergarten. „Was du alles weißt, Henrik.“

„Kein Wunder. Ich war schon oft hier oben und liebe dieses Land und das Wattenmeer. Hier wollte ich eigentlich immer wohnen.“

Dieser sein letzter Satz kam Henrik Olsen den ganzen restlichen Tag über nicht mehr aus dem Sinn. Warum ziehe ich mit Ole nicht einfach hierhin? fragte er sich und fühlte, dass dieser plötzliche Gedanke nicht nur eine vorübergehende Laune war. Dann bräuchte ich auch nicht zu befürchten, daheim beim Einkauf oder Ähnlichem mal durch Zufall Viola zu begegnen. Seine Haare sträubten sich vor Schreck bei dieser Vorstellung.

Am nächsten Morgen war Ole schon vor Henrik in den Frühstücksraum gesaust. „Ich habe Bärenhunger“, war seine Erklärung, und Henrik hörte aus dem Frühstücksraum, der nicht weit von ihrem Zimmer entfernt war, dass Frau Buchholz liebevoll mit Ole sprach und ihm einen Platz am Fenster zum Deich zuwies.

Als Henrik wenig später den Raum betrat, sah er Ole nicht am Fensterplatz sitzen. Er lehnte sich mit der Hüfte gegen einen Rollstuhl auf der anderen Seite des Mittelganges und sprach mit einem Jungen, der ein wenig älter als er zu sein schien und über dessen linke Wange eine lange rote Narbe bis zum Kinn hinunter verlief. Neben dem Jungen auf der Eckbank saß eine junge Frau mit struppig geschnittenem kurzem, dunkelblondem Haar und hörte dem plappernden Ole zu, während sie mit ruhiger Bewegung in ihrer Kaffeetasse rührte.

Henrik grüßte und deutete mit einer Handbewegung an, dass er sich und Ole vorstellen wollte. Aber die junge Frau wehrte ab und lachte. „Nicht nötig. Das hier ist Ole. Und Sie müssen nach seinen Worten sein Vater Henrik sein. Henrik, der alles weiß. Ich bin Barbara Rauters.“

„Du bist eine Klatschtante, Ole.“ Henrik strich Ole kurz über den Kopf und zog ihn dann zum Tisch am Fenster.

Frau Buchholz brachte ein üppiges Frühstück, aber Oles Interesse schien noch seinen Nachbarn am Nebentisch zu gehören. „Das ist Micha“, erklärte er seinem Vater. „Er ist unter ein Auto gekommen und muss jetzt erst wieder gehen lernen. Und das ist Barbara, seine Mutter. Die ist nett.“

Henrik warf einen fragenden Blick zum Nebentisch. „Entschuldigen Sie, Frau Rauters.“

Die junge Frau lachte herzlich. „Barbara ist schon in Ordnung. Ole weiß es ja nicht anders.“

Henrik stand auf und reichte dem blassen Micha seine mächtige Pranke. „Grüß dich, Micha.  Schön, dass Ole und ich jetzt hier bei Buchholz nicht allein frühstücken müssen.“

Micha Rauters sah Henrik mit ernsten, prüfenden Augen, in denen noch das Leid der letzten Monate zu lesen war, an und nickte nur.

Das weitere Frühstück verlief in jeweils gedämpfter Unterhaltung an beiden Tischen, obwohl Henrik öfter einen schnellen Blick zu Micha und seiner Mutter hinüber warf und selbst auch das Gefühl hatte, dass Barbara Rauters das Gleiche tat.

Später, als Henrik mit Ole draußen vor der Pension in den Pickup kletterte, sah er auf dem Nachbarparkplatz Barbara Rauters den Rollstuhl mit ihrem Sohn Micha über eine metallene, ausklappte Rampe in einen umgebauten Kombiwagen schieben. „Wir fahren zur Spielscheune hier im Ort“, rief Barbara, bevor sie die rückwärtige Tür schloss. „Kennen Sie die schon?“

Henrik schüttelte den Kopf.

„Die Scheune ist mit ein Grund dafür, weshalb wir hier sind. Micha redet schon seit Wochen davon. Wir haben sie im Internet entdeckt. Wie die Pension auch. Und Sie?“

„Auch. Das heißt, die Spielscheune noch nicht. Wär das auch was für Ole?“

Barbara Rauters nickte. „Nicht nur bei Regenwetter wie heute. Sie werden Ihren Sohn nicht mehr herauslocken können, wenn er einmal drin ist. Denken Sie an meine Worte.“ Sie winkte und stieg hinter das Steuer des Kombis.

„Die ist nett, nicht Henrik?“ fragte Ole, als wenig später der Kombi in Henriks Rückspiegel immer kleiner wurde.

„Ja, scheint sie zu sein.“ Henrik startete zur Fahrt zum nächsten Fischerhafen.

„Auch nett“, setzte Ole hinzu. Henrik hob warnend den Zeigefinger. Er ahnte, was Ole meinte.

Ole senkte den Kopf und spielte mit den Enden des Sicherheitsgutes in seinem Schoß. „Schon gut, Henrik“, sage er leise.

Gar nicht gut! begehrte eine wütende Stimme in Henrik auf, und seine Schultern sanken ein wenig vornüber. Überhaupt nicht gut, Ole.

 

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