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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 34

 

Frau Wolfgarten war zwei Tage später morgens schon lange vor der offiziellen Öffnungszeit im Geschäft. Sie räumte die Brote, die aus der Backstube gebracht wurden, in die Regale, schüttete die Körbe mit den Brötchen aus. Ihr ständig suchender Blick nach draußen durch die Schaufenster verriet, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Arbeit war. Mit jedem Blick hoffte sie, Viola zu entdecken, die heute Dienst hatte. Ob sie wohl heute Morgen die gleiche Nachricht per Handy wie ich von Henrik Olsen bekommen hat? fragte sie sich nervös. Was mag da nur passiert sein? Sie sah wieder Henriks Nachricht auf ihrem Handy vor sich. Ohne Anrede, ohne Gruß zum Schluss. Zu Ihrer Information: Ich werde Ole in nächster Zeit nicht in den Kindergarten bringen. Wir haben kurzfristig eine Reise an die Nordsee angetreten und wissen noch nicht, wann und ob wir zurückkehren werden. Henrik Olsen.

Frau Wolfgarten seufzte schwer, als sie eine Stunde nach Violas offiziellem Dienstbeginn erst Violas Freundin Anna und dann Viola selbst das Geschäft betreten sah. Zögernd. Beide mit grauen Gesichtern und dunklen Ringen unter den Augen.

„Tut mir leid, Frau Wolfgarten“, versuchte Viola eine leise Entschuldigung. „Das erste Mal, dass ich zu spät komme. Aber es ist…“

Frau Wolfgarten stoppte Violas Worte mit einer einhaltenden Handbewegung. Ihre Augen strahlten Wärme aus. „Ich bin ungefähr im Bilde, Viola. Henrik und Ole sind verreist. Ohne weitere Erklärung. Ich habe nur eine Kurznachricht bekommen.“

„Ich werde ihn eigenhändig erschlagen, sollte ich ihn noch einmal sehen!“ schimpfte Anna neben Viola, die ihr aber hastig bedeutete, zu schweigen.

„Wissen Sie was, Sie beide?“ Frau Wolfgarten schob entschlossen ihre Ärmel hoch. „Draußen im Café muss sowieso jetzt eingedeckt werden. Nehmen Sie beide alles dafür mit hinaus und decken schon ein. In der Zwischenzeit mache ich uns allen ein leckeres Frühstück. Ich wette, Sie haben noch nichts Richtiges gegessen.“ Und zu Viola gewandt: “Haben Sie Trolls Handynummer? Er ist bestimmt schon beim Renovieren des Kindergartens. Er kann gleich herkommen, vielleicht erfahren wir von ihm mehr.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie ein paar Brötchen aus dem Korb und ging in die Küche.

Troll kam schon nach einer Viertelstunde. Ein Leuchten überflog sein Gesicht, als er die beiden Frauen auf einer Gartenbank am Tisch sitzen sah. Er legte sowohl Viola als auch Anna behutsam seine schwere Hand auf die Schulter, drückte sie.

„Ach, wie schön, Euch so zu sehen!“ rief er ungeniert laut. „Wenigstens etwas halbwegs Normales in diesen verrückten Stunden!“ Er ließ sich den beiden gegenüber auf die Bank nieder und rieb sich die Hände, als jetzt Frau Wolfgarten mit einem übervollen Tablett heranbalancierte.

Doch Trolls gute Laune war nur gespielt und hielt nicht lange an. Am Tisch sagte kaum einer mehr als einen kurzen Satz, und die Pausen zwischen den Sätzen wurden immer länger. Schließlich herrschte bleierne Stille, die kaum zu ertragen war. Bis Viola sich plötzlich straffte, die Haare aus ihrem blassen Gesicht schob und entschlossen Luft holte. „Ich danke euch allen, dass ihr jetzt mit mir an diesem Tisch sitzt“, begann sie tapfer. „Besonders dir, Anna, die du noch in der Nacht losgefahren bist, nachdem ich dich angerufen hatte.“ Viola schluckte, wischte sich kurz über die Augen. „Henrik ist also mit Ole plötzlich verreist.

Er hat alles hinter sich verriegelt. Wie Frau Wolfgarten per SMS von ihm erfuhr, ist er irgendwo an der Nordsee. Oder weißt du mehr, Troll?“

Troll schüttelte den Kopf. Die Falten in seinem Gesicht waren nun viel tiefer als sonst. „Er hat mir gestern kurz die Katze Tiger gebracht und das gesagt, was auch Frau Wolfgarten weiß. Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen. Ich wollte es auch nicht, denn er sah aus wie auf Urlaub aus einem Mausoleum.“

Violas Hände verkrampften sich ineinander. „Ich vermute, dass ihn Eifersucht dazu bewogen hat“, sagte sie leise. „Das entnehme ich den wenigen Sätzen, die er mir schrieb. Mehr möchte ich aber nicht dazu sagen.“ Violas Stimme war zum Schluss nur noch ein Flüstern.

„Kinder, was sollen wir nur tun?“ seufzte Troll. „Das große Schicksalsrad läuft mal wieder aus dem Ruder.“ Er erhob sich ächzend und zog seine dünne Weste glatt. „Ich gehe wieder hinüber zum Kindergarten. Arbeit lenkt ab.“

„Aber das Frühstück!“ rief Frau Wolfgarten und wies auf das noch volle Tablett.

„Ach, heute mag ich nicht“, brummte Troll und wandte sich ab. „Heute ist eher ein Tag zum Besaufen.“

„Das ist mir aus dem Herzen gesprochen.“ Frau Wolfgarten starrte auf das volle Tablett, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Ich packe Ihnen beiden alles ein!“ rief sie. „Es wär doch schade drum, nicht? Und Sie, Anna, schnappen sich jetzt ihre Freundin Viola und nehmen sie mit.

Heute würde sie mehr Teller fallen lassen, als an Verdienst drin ist. Und heitern Sie sie etwas auf.“ Sie drückte Annas Oberarm und nickte ihr drängend zu.

„Danke.“ Viola war froh, heute allein mit Anna sein zu können. Sie reichte Frau Wolfgarten die Hand.

Aber Frau Wolfgarten zog Viola einfach an sich, drückte sie fest. „Ich wünsche Ihnen Kraft, Viola. Viel Kraft. Sie werden sie brauchen können.“

Viola nickte. Nun rannen ihr doch Tränen über die blassen Wangen, und sie schluckte.

Anna neben ihr sah es und suchte nun hastig in ihren Taschen nach einem Taschentuch für sich, das aber bald durch und durch nass war.

 

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