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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 33

 

„Sie sehen heute aber blass aus, Viola“, begrüßte Frau Wolfgarten am nächsten Morgen Viola und sah sie prüfend an. „Sie werden mir doch nicht krank werden?“

„Keine Sorge. Ich hab nur schlecht und zu wenig geschlafen“, beruhigte Viola sie und blieb vor der Verkaufstheke stehen, denn sie war heute als Kundin hier. „Geben Sie mir bitte sechs dunkle Brötchen, ja?“

Frau Wolfgartens Gesicht hellte sich auf. „Ah, Frühstück mit Henrik und Ole?“

Viola nickte. „Hoffentlich komme ich nicht zu spät damit, es soll eine Überraschung sein.“

„Dann frühstücken sie eben alle nochmal.“ Frau Wolfgarten schien zufrieden und reichte Viola die Tüte mit den Brötchen über die Theke. „Richten Sie Henrik bitte aus, Ole könne heute nicht zum Spielen herunterkommen; wir beginnen mit der Renovierung.“

„Ja, danke.“ Viola nickte und fuhr bald darauf zu Henriks Haus hinauf. Ihr war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Ich muss doch auch mal unangemeldet kommen können, verteidigte sie ihren spontanen Entschluss, vor der Fahrt in die Heide mit Henrik und Ole zu frühstücken. Dass zu ihrem Entschluss auch Beklemmung beigetragen hatte, weil Henrik sich bis jetzt noch nicht gemeldet hatte, wollte sie sich nicht eingestehen.

Viola parkte unten an der Straße, nahm die Brötchen und wollte die Gartentür zum Hanggrundstück öffnen. Aber sie bekam sie nicht auf. Erst nachdem sie ein paarmal daran gezogen hatte, sah sie, dass die Tür abgeschlossen war. Im ersten Erschrecken zogen sich Violas Schultern zusammen. Doch sie wollte eine aufkommende unbestimmte Angst nicht zulassen. Sie kletterte kurzentschlossen über den niedrigen Holzzaun und stieg den Pfad hinauf.

Oben vor dem Haus blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie konnte nicht glauben, was ihre schreckgeweiteten Augen sahen: Sämtliche Rolladen waren heruntergelassen, das sonst so einladend wirkende Haus war blind, abweisend.

Viola hastete um das ganze Haus und um die Werkstatt herum, entdeckte jedoch überall das Gleiche: Verwehrende Rolladen, Feindseligkeit, Kälte. Ein lautes Stöhnen zwängte sich über Violas Lippen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürzte zum Auto hinunter. Wie sie die wenigen Kilometer zu ihrer Blockhütte gekommen war, wusste sie später nicht zu sagen, sie war wie in Trance gefahren.

Als Viola dann am Vordereingang die Klappe zum Briefkasten offen sah, ahnte sie, dass jetzt noch Schlimmeres auf sie zukommen würde. Sie öffnete mit zitternder Hand den Briefkasten. Ein kleiner weißer Brief rutschte auf ihre Hand. Ohne Absender , nur mit ihrer Adresse. Doch Viola wusste, woher der Brief kam. Mit bebender Hand riss sie den Umschlag auf und las die wenigen Zeilen, die Henrik mit fahriger Hand hingeworfen hatte: Also doch nicht Martina oder Petra, sondern Martin oder Peter…! Ich werde mich nicht wertend dazu äußern. Du hast jedenfalls jetzt viel Zeit dafür. Womöglich Dein ganzes Leben lang. Mich lass aber mit allem in Ruhe. Ich will dich nie wieder sehen. Ich werde Mittel und Wege finden, das zu realisieren. Ein Schlusswort fällt mir nicht ein-und soll es auch nicht. Henrik

Viola ging wie in Trance um die Blockhütte herum und ließ sich aufstöhnend auf die Stufen der Terrasse nieder. Der kleine Brief entglitt ihren Händen, schwebte wie ein stilles Herbstblatt, dessen Zeit gekommen ist, langsam zu Boden. Viola sah ihn matt auf dem taunassen Gras liegen. Beweg dich doch! flehten ihre Gedanken ihn an. Schweb in die Lüfte und ruf lachend: “Es ist alles nur ein Scherz, Viola! Nur ein böser Scherz! Bitte verzeih!“

Aber der Brief bewegte sich nicht. Seine weiße Farbe war die von seinem Leichentuch. Es war nicht der schwächste Laut von irgendwo ringsherum zu hören. Der Wind hielt den Atem an.

 

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