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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 31

 

Der Morgen, an dem ganz plötzlich der Himmel auf Henrik Olsen niederstürzte, war unverdächtig heraufgezogen. Mit freundlichem, rosablauem Lächeln. Nicht der kleinste Windhauch deutete den Orkan an, der in Gestalt eines Briefes sein Leben vollkommen verändern, ihn mit sich fortreißen sollte.

Henrik stand in seiner Werkstatt und studierte einige Skizzen. Er hatte Ole auf Einladung von Frau Wolfgarten hinunter in den Kindergarten gefahren, weil Ole auch jetzt in der Wartezeit bis zum Schulbeginn möglichst oft mit anderen Kindern spielen sollte. Als Henrik das Motorgeräusch des Postautos hörte, legte er die Skizzen beiseite und stieg den Pfad quer über das Grundstück zum Briefkasten neben dem Tor hinunter. Er öffnete die rückwärtige Klappe und nahm seine Post heraus.

Schon beim ersten Blick auf den dicken Brief im dunkelroten Umschlag fühlte Henrik, wie sich sein Magen anspannte,  schließlich verkrampfte. Mit gerunzelter Stirn las er seine Adresse in großen, steilen, mit der Hand geschriebenen Buchstaben. Ein Absender fehlte. Einem plötzlichen Impuls folgend, hielt Henrik den seltsamen Umschlag an seine Nase, -und was er vermutet hatte, war so: Schwerer, süßer Parfumduft nahm ihm fast den Atem. Gleichzeitig aber ließ die Anspannung in ihm ein wenig nach, denn er hatte schon oft Post von Verehrerinnen in dieser Art und auf diesem Weg erhalten.

Wieder eine, die meine Skulpturen mit mir verwechselt, dachte er und stieg den Pfad zum Haus hinauf. Auch wenn solche Briefe mit Absender kamen, so antwortete er nie darauf. Die tiefe Narbe in ihm, die noch von Rosis Weggang stammte, verheilte schlecht. Henrik ging direkt ins Haus. Im Wohnzimmer schlitzte er den Umschlag auf. Eine Video-DVD war in einen Bogen Schreibpaper gewickelt. Henrik faltet den Bogen auseinander und las mit gefurchter Stirn: “Ich möchte Sie vor einer Riesendummheit bewahren“, stand dort in steiler, selbstbezogener Schrift. Und dann noch: “Eine, die es wirklich gut mit Ihnen meint.“

Da kehrte der Druck auf Henriks Magen wieder mit voller Wucht zurück. „Verdammter Mist!“ fluchte er. Mit wenigen Schritten war er beim DVD-Spieler, der in einem Fach unter dem Fernseher stand, ließ den CD-Teller ausfahren und schaltete die Geräte ein. Mit der Fernbedienung in der Rechten stand er breitbeinig vor dem Gerät. Wie jemand, der sich einem Angriff stellen will.

Der Film begann mit einem langsamen Kameraschwenk über einen Fluss. An den Brücken und am Kölner Dom war unschwer zu erkennen, dass es der Rhein war. Offensichtlich stand die Person, die diesen Videoclip aufgenommen hatte, auf dem Oberdeck eines Ausflugschiffes, denn der Blickwinkel auf die Häuserzeile der Altstadt und die Rheinpromenade ging nach oben. Der Clip musste erst vor kurzem aufgenommen worden sein, denn der Rhein hatte das jetzige Niedrigwasser, da es in letzter Zeit kaum geregnet hatte. Und die Bäume auf der Promenade standen schon im vollen Laub dieses schönen Sommers.

Oben an der breitenLandungsbrücke, die zum Schiff hinunterführte, standen unaufgeregte Menschen. Die ersten kamen mit vorsichtigen Schritten die Holzplanken der Gangway hinunter, denn die Planken waren noch nass vom nächtlichen Tau. Die Kamera schwenkte

bedächtig weiter, über die Möwen hinweg, die noch selten friedlich in langen Ketten auf den Haltetrossen saßen.

Bis das Bild ganz plötzlich ruckte. Stand. So verharrte. Irgendetwas hatte die Aufmerksamkeit des Filmenden gefesselt. Und zwar sehr, denn plötzlich ruckte der Bildausschnitt wieder zurück, heftete sich auf ein junges Pärchen, das augenscheinlich verliebt und in bester Stimmung den Steg herunterstieg. Ein Mann mit kantigem Gesicht und kurzgeschnittenem schwarzem Kinnbart hatte seinen Arm um die Taille eines Mädchens mit tiefbraunem Haar gelegt und drückte mehrmals verliebt zu, was das Mädchen mit bejahendem Lachen quittierte.

Ein Stöhnen entrang sich Henriks Brust, als er das Gesicht des Mädchens erkennen konnte, das die Kamera in diesem Moment näher heranholte. „Viola!“ keuchte er entsetzt.

Für einen Moment schloss er die Augen, als hoffe er, dies Bild vor sich nicht mehr sehen zu müssen, wenn er sie wieder öffnete.

Aber die Hoffnung trog. Mit schreckensweiten Augen sah Henrik die beiden zum Heck des Schiffes gehen und sich dort auf die runde Bank vor der Reling kuscheln. Die Kamera näherte sich den beiden bis auf etwa fünf Meter, aber es war kein Laut zu hören, denn das Mikrofon war nicht eingeschaltet. Offenbar wagte der Filmende nicht, näher heranzugehen.

Die folgenden Sequenzen waren aus Hüfthöhe aufgenommen worden, die Kamera wurde versteckt gehalten.

Henrik wischte sich über die Augen, über die Stirn, auf der nun Schweißperlen standen. Er konnte seinen Blick nicht von dem Pärchen auf der Bank losreißen und musste so miterleben, wie die beiden sich mit verliebten Blicken verschlangen, küssten. Schließlich zusammen an einem großen Eis in einer riesigen Waffel naschten.

Also doch! Das war nach ein paar Minuten entsetzten Starrens Henriks erster Gedanke. Ich hatte recht. Es ist doch Martin oder Peter und nicht Martina oder Petra. Henriks bitteres Lachen, das mehr ein Stöhnen war, begleitete den Rest des Films, der zeigte, dass Viola sich ihre Haare nun im Nacken zusammenband, schließlich einen beim Steward bestellten Cappuccino trank.

Dass du dir die Haare zusammenbindest, Viola, schoss es Henrik durch den Sinn, versteckt dich auch nicht. Aber du scheinst ja auch offensichtlich keinen Grund zu haben, dich vor etwas verstecken zu wollen. Auch wenn du dieses grüne Sommerkleid trägst, das ich noch nicht an dir gesehen habe. Kein Wunder, wenn es in Köln im Schrank deines Geliebten hing…

Henrik konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden. Als er fühlte, dass ihm schlecht wurde, ließ er sich schwer in einen Sessel fallen.

Als jetzt ein rotes Warnlicht in der Ecke des Displays zu blinken begann, wusste Henrik, dass die Tortur bald ein Ende haben würde, denn offensichtlich waren die Akkus der Kamera leer. Doch sah er noch, dass der bärtige Mann und Viola nach dem Anlegen umschlungen die Gangway hinauf zur Promenade stiegen und in ein Taxi kletterten, dessen Fahrer die beiden offensichtlich kannte, denn er winkte ihnen zu. Bald darauf schlängelte sich das Taxi in den Verkehr der Rheinuferstraße und entfernte sich. Dann war der Bildschirm ganz plötzlich dunkel.

Henriks Gedanken hetzten. Vorbei! hämmerten sie immer lauter und schmerzlicher. Aus und vorbei! Der große Mann hing mehr in seinem Sessel, als dass er saß. Seine Arme hingen wie leblos an seinen Seiten herab. Um ihn herum schwarze Stille. Grabesstille.

Zwei schwere Tränen zwängten sich unter seinen geschlossenen Lidern heraus, kullerten durch Bartstoppeln bis in die Mundwinkel. Dann bewegte sich nichts mehr.

 

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