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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 28

 

Viola erwachte davon, dass ihr kalt war. Ihre Hände suchten im Halbschlaf nach ihrer dünnen, bunten Wildseidendecke, doch sie konnten sie nicht ertasten. Was habe ich denn da für Wäsche aufgezogen? fragte sie sich, als ihre Hände über das Bettlaken glitten. Doch bevor sie ihre Lider öffnete, um die Zudecke zu suchen, kam die Erinnerung wie eine Lawine.

Das ist Henriks Bett! Ich bin gar nicht in meiner Blockhütte! Ihr Kopf flog herum, ihre Augen wurden groß. Und sie schloss sie gleich wieder. Einen kurzen Moment lag sie so da, hielt den Atem an. Dann legte sich ein verträumtes Lächeln um ihre Lippen. Sie öffnete die Lider wieder, ihr Blick tastete sich über Henriks gewaltigen nackten Rücken. Er lag zur anderen Seite gerollt, hatte das Kopfkissen mit beiden Armen umschlossen und schlief tief und fest mit leisem Brummen.

Mein Bison, dachte Viola, und eine Woge der Zärtlichkeit ließ sie im Liegen schweben. Da liegt mein lieber Bison und brummt zufrieden im Schlaf…!

Viola wurde abgelenkt, weil sie ein seltsames Geräusch vom Boden neben ihrer Bettseite hörte

Sie wollte sich aufrichten, merkte dann aber, dass lediglich ein Zipfel der gesuchten Bettdecke über ihren Hüften lag. Der Rest war hinuntergerutscht. Deshalb ist mir kalt, dachte sie; Ich bin ja so gut wie nackt! Sie drehte sich auf die Seite, um so besser die Bettdecke vom Boden hochziehen zu können.

Ein kaum unterdrückter Schreckenslaut kam über ihre Lippen, als das seltsame Geräusch neben dem Bett nun ein deutliches Schnaufen wurde und die bunte Bettdecke sich von allein hob. Dann schälten sich Oles Arme aus der Decke-und nach einem kurzen Ziehen kam sein ganzer Kopf zum Vorschein.

„Pst!“ flüsterte Ole und hielt den gestreckten Zeigefinger an die gespitzten Lippen. Er deutete über Viola hinweg auf Henrik. Dann stand er auf, zog die Decke ganz hoch und breitete sie über Viola aus. Als er noch einen Fuß von ihr herausgucken sah, ging er in aller Ruhe zum Fußende und steckte ihn unter die Decke. „So“, schloss er mit zufriedenem Blick und nickte, „damit du dich nicht erkältest.“

„Danke, Ole.“ Viola zog einen Arm unter der Decke hervor und streichelte über seine Haare.

„Aber was machst du denn so früh hier?“flüsterte sie.

Ole zeigte auf den Boden neben dem Bett. Da lag seine Baseballkappe auf dem neuen, bunten Schulranzen, mit dem er in einigen Tagen zum ersten Mal zur Schule gehen sollte. „Ich probier den Schulweg aus“, flüsterte er. „Nächste Woche muss ich das doch können. Und ich fahre auch mit dem Schulbus.“ Während Ole leise mit Viola sprach, stand er an die Bettkante gelehnt und streichelte gedankenverloren mit der flachen kleinen Hand ihren nackten Oberarm. Keine Spur von Verwunderung lag auf seinem Gesicht.

Ole nimmt mich gerade wie selbstverständlich in sein Zuhause auf, durchfuhr es Viola, und eine Welle der Geborgenheit stieg in ihr auf. „Der Schulbusfahrer wird dich aber noch nicht kennen“, gab sie zu bedenken.

„Pah! Dann wird er mich eben heute kennenlernen. Ich stelle mich einfach unten an die Haltestelle und winke.“ Ole baute sich auf und holte tief Luft. „Und wenn er nicht hält, kriegt er es mit dem da zu tun.“ Er zeigte über Viola hinweg auf seinen Vater.

„Bist ja mächtig stolz auf deinen Vater“, nicht wahr?“

Ole nickte. „Na klar. Ich liebe ihn. Du etwa nicht?“

Viola hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut über seine Art  zu lachen, nickte

dann. „Doch, Ole, ich liebe Henrik. Und dich auch.“

„Dann ist es ja gut.“ Die Welt schien nun für Ole in Ordnung zu sein. Er setzte seine Kappe auf, schulterte den Schulranzen. „Sag Henrik von mir, ich käme mit dem nächsten Bus wieder zurück, er soll sich keine Sorgen machen. Ich bringe dann Brötchen für euch zwei Schlafmützen mit, ok? Ihr werdet bestimmt Bärenhunger haben.“

Jetzt lachte Viola doch hell, wenn auch hinter auf die Lippen gedrückter Hand. „Ja, den haben wir gleich bestimmt, Ole. Hast du denn Geld?“

„Klar.“ Ole pochte auf seine Hosentasche. Er streichelte Violas Arm bis zur Hand hinunter, dann ging er. Als er in der offenen Tür stand, drehte er sich noch einmal um und tippte lässig an den Rand seiner Kappe. Und zum ersten Mal an diesem Morgen sah Viola ihn breit grinsen.

Nachdem Viola die Haustüre leise ins Schloss hatte fallen hören, drehte sie sich zu Henrik um. Ein langer Seufzer drängte sich über ihre leicht geöffneten Lippen, als ihr Blick Henriks Rücken und Schulter streichelte.  

Als ihr Verlangen nach ihm übermächtig zu werden drohte, legte sie ihre Hände flach gegeneinander und schob sie zwischen ihre Wange und dem Kopfkissen.

„Schön brav bleiben“, flüsterte sie ihnen zu. „Lasst ihn noch ein wenig schlafen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.“ Ein zärtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre Augen waren weit geöffnet. Sie lauschte tief in sich hinein. Auf ihr neugeborenes Glück.

 

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