zurück zu Kapitel 25    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 27

 

Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 26

 

Zu Violas Vortrag in dieser Woche in Köln kamen so viele Interessierte, dass der Hausmeister

des Gebäudes, in dem der Naturschutzbund sein Domizil hatte, die Veranstaltung kurzerhand in den größten Saal des gesamten Gebäudekomplexes verlegte.

Auch Henrik Olsen war wieder unter den Zuhörern. In der ersten Reihe, unübersehbar.

Was ich alles noch lernen kann! staunte er im Laufe ihres Vortrage, als er erfuhr, dass Birken und Kiefern schon vor neuntausend Jahren an den Moorrändern heimisch waren, dann über Jahrtausende hinweg gefolgt von Erlen, Hasel, Eichen und Linden. Henrik staunte, als er erfuhr, dass die Fichte hier erst vor knapp zweihundert Jahren zum ersten Mal auftrat.

So stand Henrik auch als erster auf, kaum dass sich Viola nach dem Ende des Vortrages  bedankt hatte, und rief ungeniert: “Bravo!“

Viola hörte ihn rufen. Sie nickte dankend in seine Richtung, beeilte sich dann mit dem Zusammenpacken ihrer Unterlagen, denn sie hoffte, dass Henrik nicht sofort nach Hause fahren, sondern irgendwo in der Vorhalle warten würde. Sie bemühte sich, gelassen zu erscheinen, aber eine verräterisch pulsierende Ader an ihrem Hals verriet sie, als sie Henrik wirklich in der Vorhalle warten sah. Er lehnte an einer Blumenbank, hielt ein Taschenbuch in der Hand, mit dem er winkte, als Viola auf ihn zukam.

„Ich muss das Risiko in Kauf nehmen, Viola, von Ihnen als Wegelagerer eingestuft zu werden“, sagte er fröhlich und reichte ihr das Taschenbuch. „Aber ich habe Ihnen von Troll dieses Büchlein zu übergeben. Es schien ihm sehr wichtig zu sein.“ Er hielt Viola jetzt die Vorderseite so hin, dass sie den Titel lesen konnte. „Traumziel Wunscherfüllung“, stand dort in großen Buchstaben quer über die ganze Seite. Henrik runzelte die Stirn. „Gibt es immer noch Probleme wegen Ihres Albtraumes?“ fragte er leise. „Wenn ich Ihnen helfen kann…?“

Viola schüttelte den Kopf. „Wohl eher nicht. Vielleicht erzähle ich Ihnen irgendwann mal ausführlich davon. Er belastet mich, weil ich immer davon ausging, dass Träume nur Verarbeitung von Erlebtem oder geheimen Wünschen sind. Der meine aber scheint mir sehr diesseitsbezogen. Es wollte mir jemand etwas sagen, was von großer Wichtigkeit für mich ist. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich habe es schlicht vergessen. Das ist schlimm für mich.“

Henrik nickte ernst. „Ja, erzählen Sie mir irgendwann bitte den ganzen Traum.“Er sah sich suchend um. „Ich habe noch Verlangen nach einem Cappuccino oder Espresso. Gibt es hier so etwas?“

Viola sah auf die große runde Uhr hinter Henrik an der Wand. „Die kleine Kaffee-Bar um die Ecke hat noch zwanzig Minuten geöffnet. Reicht das?“

„Bin schon unterwegs.“ Henrik folgte Viola, die vorausging, und ein paar Minuten später saßen

sie nebeneinander auf Barhockern als einzige Gäste in dem kleinen Café ,in dem der Barkeeper schon die polierten Gläser wegräumte. „Was kann ich euch beiden Hübschen denn noch Gutes tun?“ fragte er und lächelte freundlich.

Henrik sprach sich mit Viola ab, bestellte dann einen Cappuccino und einen Milchkaffee. Als sie ihre Tassen an die Lippen setzten, schauten sie sich über die Tassenränder an. Sie schwiegen, während ihre Blicke von Uneingestandenem erzählten.

„Ich muss nun los“, sage Viola schließlich, als Minuten vergangen waren. „Martina und Petra werden schon auf mich warten.“

Henrik nickte. Dann setzte er urplötzlich hinzu: „Sind Sie sich mit Martina und Petra sicher?

Nicht Martin und Peter?“

Viola sah verwundert zu ihm auf. „Henrik Olsen“, fragte sie dann so leise, dass der Barkeeper sie nicht verstehen konnte, „Sie sind doch wohl nicht eifersüchtig?“

Henrik versuchte ein selbstsicheres Auflachen, aber es gelang ihm nicht. „Und wenn-was wäre dann, Viola?“ Viola brauchte lange für eine Antwort. Sie sah auf ihre Hände, als wenn sie von ihnen die Antwort ablesen könnte. „Das wäre schön“, flüsterte sie schließlich lächelnd und blickte Henrik offen in die Augen.

Henrik legte spontan seine Riesenpranke auf Violas Hand auf der Theke, aber so sanft, als wenn sie eine schwebende Seifenblase wäre. Er holte tief Luft. „Ich glaube, ich muss gestehen, dass es wahr ist: Ich bin ein bisschen eifersüchtig.“

Violas Hand legte sich nun noch oben auf seine Hand, drückte sie. „Dann will auch ich ein Geständnis machen“, flüsterte sie: „Das ist schön so.“

„So, ihr Turteltäubchen“, rief in diesem Moment der Barkeeper und kam mit der Kasse unter dem Arm näher. „Feierabend!“

Viola und Henrik zahlten und wünschten dem Barkeeper gute Nacht.

„Euch beiden auch eine gute Nacht!“ rief der Barkeeper fröhlich hinter ihnen her. „Aber verschlaft sie nicht! Wäre schade drum!“

Viola verteufelte die Röte, die jetzt wieder in ihre Wangen stieg. Henrik versuchte, überlegen zu lachen, aber es gelang ihm nicht ganz. Draußen im Vorraum blieb er scheinbar interessiert vor einem großen Poster mit Fotos stark bedrohter Vogelarten stehen. Viola zog ihre Hand zurück, die sie ihm schon zur Verabschiedung hatte reichen wollen, und trat neben ihn vor das Poster.

„Ziegenmelker“, las Henrik halblaut. Er runzelte die Stirn und blinzelte. „Habe ich noch nie gehört. „Melkt der wirklich Ziegen?“

Viola lachte. „Natürlich nicht. Der Ziegenmelker heißt auch Nachtschwalbe. Da er wie auch der Turmfalke ein Rüttler ist, und da er nachts dort rüttelt, wo die meisten Insekten sind, nämlich über den Viehherden, glaubten flüchtige Beobachter, dass das Rütteln Ziegenmelken sei.“

„Hut ab, Frau Biologin.“ Henrik brachte sein Gesicht näher an das Poster vor sich heran. „Haben Sie schon mal einen gesehen? Ich meine, weil man diesen Vogel mit seiner braunen Tarnfarbe kaum erkennen kann.“

„Vorgestern noch. Im belgischen Teil des Hohen Venn. Und das ausnahmsweise tagsüber. Das war ein riesiger Glücksfall.“

„Den möchte ich wohl auch mal zu Gesicht bekommen.“ Henrik schien fasziniert. „Könnten Sie mir den Ort beschreiben, wo Sie ihn gesehen haben?“

„Hm.“ Viola wiegte den Kopf. „Das ist eine verwunschene Ecke dort. Aber-aber ich könnte Sie ja mal mitnehmen, wenn Sie ganz leise sein können.“

„Ehrlich?“ Henrik fasste in offensichtlicher Freude ihren Unterarm, drückte ihn. „Das würden Sie tun? Ich würde auch still sein wie ein Mäuschen.“

„Gut denn.“ Viola nickte, nestelte eine Visitenkarte aus ihrem Rucksack „Hier, rufen Sie mich an, dann können wir den Zeitpunkt festlegen.“

„Danke.“ Henrik steckte die Karte sorgfältig in die Brusttasche seines Polohemdes. Dann lachte er auf. „Nennt man das jetzt ein Date, was wir gemacht haben?“

„Um Gottes willen, nein!“ Viola hob abwehrend die Hand. „Verstehen Sie meinen Vorschlag nicht falsch, Henrik.“

Wie schön das klingt, wenn sie Henrik sagt, durchfuhr es Henrik, und es wärmte ihn. „Tu ich nicht, Viola.“ Er reichte ihr die Hand. „Nochmals danke. Ich rufe Sie bestimmt bald an. Und nun kommen Sie gut zu Ihren Freunden.“

„Danke.“ Viola nahm seine Hand, wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um. Henrik stand noch auf demselben Fleck und sah ihr nach. „Ach, da fällt mir ein: Der Ziegenmelker ist nur nachts aktiv!“  rief sie ihm zu. „Wir müssten also in der Dämmerung los. Haben Sie jetzt immer noch keine Angst vor ihrem Mut?“

„Nur davor, dass Sie mir in der Dunkelheit dort nichts tun könnten!“ Henriks Lachen hallte von den Wänden wider.  Er wandte er sich ab und durchquerte mit langem Schritt die Halle.

Viola sah ihm nach, bis er durch die Drehtür verschwunden war. „Unmöglicher Mann“, sagte sie halblaut und schüttelte den Kopf. Aber weder ihr Kopfschütteln noch ihre protestierende Stimme wollten zu ihren glitzernden Augen passen.

 

zurück zu Kapitel 25    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 27