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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 24

 

Viola dachte in den nächsten Tagen nicht, dass Oles Abschlussfeier sie beschäftigen würde. Das ist doch ein Abend wie jeder andere auch, redete sie sich ein.

Von Troll hatte sie in der Zwischenzeit erfahren, dass auch er auf der Feier sein werde, da er sich bereit erklärt hätte, die Kindergartenräume in den Sommerferien kostenfrei zu renovieren. Und von Troll erfuhr sie weiter, dass sie dort natürlich auch auf Henrik treffen würde.

Na und? fragte sie sich, wenn sie daran dachte. Henrik ist nur einer von vielen Eltern, von denen ich durch meinen Job in der Bäckerei weiß, dass sie kommen. Frau Wolfgarten moderiert als Vorsitzende des Trägervereins den Abend, dann wird es familiär. Also, Viola, du brauchst dir im Vorhinein keine Gedanken daran zu machen.

Dass sie sich mit solchen Überlegungen ergebnislos abzulenken versuchte, merkte Viola erst, als sie zwei Tage vor dem Fest morgens nach dem Frühstück vor ihrem Kleiderschrank stand und sich prüfend Sommerkleidern unter das Kinn hielt. „Ich möchte nicht Annas Spott hören, wenn sie das jetzt hier sähe“, murmelte sie lachend. „Und auch nicht ihren Kommentar zum ersten Friseurtermin, den ich seit einem halben Jahr hier in der Wildnis gemacht habe.“

Viola entschied sich dann für einen dünnen Glockenrock aus himmelblauer Baumwolle

mit am Saum aufgenähter, gekräuselter Bordüre. Dazu für eine weiße Bluse, deren weite Ärmel sich oberhalb des Ellbogens in einem Bündchen schlossen. „Das muss reichen“,

bestätigte sich Viola mit einem letzten Blick und kurzem Zunicken im Spiegel. „Für alle.

Auch für Herrn Olsen.“

Am späten Nachmittag versorgte Viola Maori mit Futter und Wasser, setzte ihn in seinen Käfig auf die Stange und fuhr mit ihm in die Stadt hinunter. Der Kindergarten lag am Rand eines kleinen Parks, sodass genügend Platz für den buntgestrichenen Flachbau und auch für einen weitläufigen Spielplatz dahinter mit Sandhügeln und Schaukeln war.

Schon von weitem hörte sie aus den wegen des warmen Sommerwetters weit geöffneten Fenstern helles, fröhliches Kinderlärmen, dazwischen den kläglichen Versuch eines Keyboards, populäre Tanzweisen vernehmbar zu machen. Unübersehbar parkte Henrik Olsens Pickup unmittelbar neben dem Eingang.

„Platz Nummer eins für den Herrn Nummer eins“, murmelte Viola. „Ist ja wohl klar.“

Drinnen herrschte lauter Trubel, den Frau Wolfgarten gerade mit rudernden Armen in geordnete Bahnen zu lenken versuchte. „Hallo Frau Meiners!“ rief sie, als sie Viola mit ihrem Käfig sah. „Hierher!“ Und als Viola neben ihr stand, wies sie auf den langen, mit weißen Papiertischtüchern drapierten Tisch neben sich. „Ich habe mir gedacht, ich setze Sie zu den Herrschaften hier an diesen Tisch. Sie kennen sich ja schon, wie ich von Ihrer Geburtstagsfeier in unserem Cafégarten  weiß.“

„Danke.“ Viola nickte. „Ja, wir sind uns schon mal begegnet“, setzte sie fröhlich hinzu und reichte Troll, Ole und Henrik Olsen, die sie neugierig musterten, die Hand. Sie setzte sich neben Ole auf die Bank, der spontan einen Kuss auf ihre Wange drückte. Gegenüber saßen mit breit abgewinkelten Ellbogen Troll und Henrik.

Viola stellte den Käfig vor sich auf den Tisch, Maori trippelte auf seiner Stange hin und her und legte den Kopf schief, als er seine Umgebung beäugte. Henrik Olsen musterte er am längsten, als wenn er etwas überlegte. Dann krähte er laut: „Kratzbürste!“

Viola tat so, als wenn sie erschrocken über seinen Ausruf sei, beugte sich zu ihm hin und raunte leise, aber doch gut vernehmbar: „Du musst doch nicht verraten, wer dir so Freches beigebracht hat, Maori. Das tut man nicht. Vielleicht schämt sich Herr Olsen ja jetzt“

Troll ließ eine dröhnende Lachsalve hören, schlug sich auf sein Knie und rief: „Bevor Henrik sich schämt, geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr!“

Henrik lachte mit und nickte. Dann aber fing er Violas fragenden Blick auf, und er setzte zögernd hinzu: “Kommt ganz darauf an“

Viola hätte gern noch erfahren, was er damit meinte, aber jetzt übernahm Frau Wolfgarten über ein Mikrophon lautstark die Moderation der Abschlussfeier. Die Kinder, die auf die Schule wechselten, wurden namentlich aufgerufen und verabschiedet. Nachdem die mitgebrachten Tiere präsentiert worden waren, gab Frau Wolfgarten dem Mann am Keyboard ein Zeichen und forderte alle zum Tanzen auf. „Wer traut sich, den Anfang zu machen?“ fragte sie laut.

„Ich“, antwortete Ole mit heller Stimme, und als er beifälliges Gelächter erntete, ging sein Blick hilfesuchend zu seinem Vater hinüber. “Machst du das dann für mich, Henrik?“

„Gott bewahre! Ich komm ja auch gar nicht so tief zu den kleinen Mädchen runter.“

„Es gibt ja auch große. Viola zum Beispiel.“ Ole nahm einen Schluck von seiner Limonade.

So sah er nicht, wie sich Henriks und Violas Blicke nach seinen beiläufigen Worten trafen.

Erst flüchtige, scheue, scheinbar verirrte. Dann aber längere, ruhigere. Sicher, sich nicht verirrt zu haben. Und die anfangs noch flatternden Augenlider ruhten sich auf den Lidern des anderen aus.

Dann machte Henrik mit einem nach unten gerichteten Zeigefinger eine kreisende Bewegung.

Seine Brauen hoben sich fragend.

Sollten wir das tun, was Ole eben vorgegeben hat? las Viola in Henriks Blick. Den Tanzabend eröffnen, wenn wir gefragt werden? Sie nickte spontan, und ihre sich öffnenden Lippen verrieten ihre ungesagten Worte.

Unter spontanem Beifallklatschen vieler Zuschauer fanden Viola und Henrik sofort in den Rhythmus, als wenn sie vorher geübt hätten. Henrik fühlte die  Biegsamkeit und Leichtigkeit ihres Körpers in seiner Rechten, die ihre Taille hielt. Er sah den sonnengebräunten Hals über ihrer Bluse, der sich in den Drehungen nach hinten bog. Er fühlte die Wärme ihrer Linken auf seinem Oberarm, sah sie durch ihre leicht geöffneten Lippen schneller atmen. Auch sein Atem beschleunigte sich.

Viola genoss den Walzerrhythmus mit halb geschlossenen Augen. Die warme, starke Männerhand um ihre Taille. Bei schnellen Drehungen auf der Stelle den Druck seiner Hüfte an der ihren. Nicht aufhören, Walzer, dachte sie verlangend. Jetzt bitte nicht aufhören. Nicht jetzt.

Ein Kamerablitz dicht vor ihnen brachte beide in die Wirklichkeit zurück. Eine junge Fotografin eines regionalen Handelsblattes rief: “Danke! Sie finden sich in der nächsten Ausgabe auf der Titelseite!“ Schon war sie in der Menge untergetaucht.

„Puh! Das war aber ein harter Umschnitt in die Realität.“ Henrik brach den Tanz ab. Viola nickte und folgte ihm zum Tisch zurück, wo Troll und Ole sie mit großen Augen erwarteten.

Als später erneut Tanzweisen einluden, blieben Viola und Henrik unabgesprochen sitzen. Ab und zu trafen sich ihre Blicke, und einer sah in den Augen des anderen die Erinnerung an ihren Tanz.

Später dann erhob sich Viola, nahm den Käfig. „Ich bringe Maori in den Wagen, decke seinen Käfig zu, dann kann er schon schlafen.“

„Maori müsste man heißen“, kommentierte Troll ihr Vorhaben und schmunzelte.

Viola strich im Vorbeigehen Ole über den Kopf, wie sie es oft tat. „Wenn mich gleich einer sucht, ich bin im Garten. Luft schnappen. Es ist sehr heiß hier drin.“

Henrik erhob sich ebenfalls. „Würden Sie mich mitnehmen? Auch ich muss an die Luft.“

Viola zögerte gespielt, dann sagte sie gedehnt: „Wenn Sie versprechen, dass Sie draußen schweigen“

„Versprochen, Gnädigste. Ich wüsste jetzt auch nichts zu sagen.“ Henrik ließ sein Jackett über der Stuhllehne hängen und folgte Viola.

Troll lenkte Ole in der folgenden Stunde mit Kartentricks davon ab, dass die beiden nicht wiederkamen, obwohl nun die Dämmerung anbrach und hier und da ein Licht aufflammte. Erst nach einer weiteren Viertelstunde sagte Troll: „Wir sollten mal gucken, wohin die beiden verschollen sind, nicht?“ Ole nickte heftig, und so schlichen sie sich bald im Halbdunkel um die Rückwand des Kindergartens zum angrenzenden Spielplatz.

„Halt!“ flüsterte Troll schließlich leise und hielt Ole mit der Hand zurück. „Da sind sie. Bleib stehen und sei leise.“ Mit großen Augen sahen sie Viola auf der hohen Schaukel schwingen. Nicht wild, kaum ein paar Meter sanft hin und her. Die Arme hatte sie so um die dicken Hanfseile geschlungen, dass ihre Hände sich vor ihrer Brust schließen konnten. Henrik Olsen stand mit dem Rücken an die dicken Holzstämme gelehnt, die die Schaukel trugen. Er hatte ein Bein vor das andere gesetzt, die linke Hand hielt er in der Hosentasche.

Und mit der rechten Hand gab er Viola, jedes Mal, wenn sie dicht am ihm vorbeischwang, einen sanften Schubs mit, sodass sie mit den Beinen nicht mitschwingen brauchte. Kein Wort fiel dort drüben im Halbdunkel des lauen Sommerabends.

„Troll, das habe ich schon mal im Fernsehen gesehen“, wisperte Ole aufgeregt an Trolls Seite und zupfte an seinem Hosenbein. „Pass auf, gleich küssen sie sich.“

Troll kicherte leise. „Was verstehst du schon vom Küssen, Ole?“

„Ist doch einfach, weißt du das nicht? Die beiden müssen nur die Köpfe zur Seite halten, damit die Nasen nicht zusammenstoßen. Und dann essen sie sich gegenseitig ihre Lippen.“

Troll unterdrückte mühsam sein Lachen. „Mir scheint, da brauchst du aber noch ein paar Nachhilfestunden. Na ja, hast ja noch Zeit dafür. Viel Zeit. Und wie nennst du das, was Henrik da mit seiner Hand auf Violas Rücken macht?“

„Pah, das siehst du doch, Troll. Henrik boxt Viola jedes Mal, wenn sie an ihm vorbeikommt, in den Rücken, damit sie nicht einschläft.“

Troll biss sich auf die Lippen, um sich nicht durch Prusten zu verraten. „Falsch, Ole. Was

die beiden da machen, ist Schmusen.“

„Stimmt gar nicht, Troll“, protestierte Ole leise, aber heftig. „Beim Schmusen muss man sich ganz nah sein und die Wangen aneinander reiben. Das kannst du jetzt ruhig mal von mir lernen.“

„Ach Ole“, seufzte Troll verträumt, „es gibt so viele Arten von Schmusen. Guck doch nur.“

 

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