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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 23

 

Viola stürzte sich in der folgenden Zeit wieder in ihre Arbeit. Die Termine für ihre Vorträge und die Fertigstellung ihres Forschungsauftrages zur Artenvielfalt drängten. Auch war sie froh, dass sie sich während der Arbeit besser konzentrieren konnte, denn oft drängte sich der Abend in Köln und die Begegnung mit Henrik Olsen in ihre Gedanken. Dieser schöne Moment im Dunkeln auf dem Parkplatz, an den sie bei jedem Gedanken ihre weichen Knie erinnerten.

Auch heute hatte sie sich mit Arbeit davon ablenken wollen und war schon früh am Morgen

zum Moor hinaus gefahren, um Fotos zu machen. Jedoch kaum, dass sie ihre Ausrüstung aus dem Rucksack gepackt hatte, bezog sich der Himmel mit einem milchigen Schleier. „Das wird

heute wohl kein Tag mehr zum Fotografieren“, murmelte sie enttäuscht und packte ihre Ausrüstung wieder ein. Sie fuhr zurück und breitete ihre Arbeitsunterlagen auf dem großen Tisch auf der Holzterrasse aus. Maori im Käfig neben ihr hatte seinen Kopf zwischen seine kurze Schwinge und Brust gesteckt und tat so, als wenn er schliefe. Viola durchschaute ihn aber, denn ab und zu trat er von einem Fuß auf den anderen.

Schon nach einer Viertelstunde war es aber mit ihrer Konzentration auf die Arbeit vorbei. Sie hob verblüfft die Brauen, denn das Motorengeräusch, das jetzt unten aus dem Tal kam, wo die Serpentinen zur Blockhütte begannen, kannte sie. „Henrik“, kam es erstaunt über ihre Lippen. „Nanu?“

Aber sie hörte den Wagen nach einiger Zeit wieder davonfahren. Violas Blick fixierte dennoch die letze Kurve der Serpentinen vor der Blockhütte. Sie hoffte, sich geirrt zu haben, und Henrik Olsen erschiene zu Fuß zwischen den Bäumen.

Doch Henrik Olsen kam nicht. Dafür aber Ole. Er stand in den Pedalen seines schwarzgelben Mountainbikes und keuchte den Berg herauf. Als er Viola sah, nahm er eine Hand von der Lenkstange und winkte, sodass er bedrohlich schwankte. Vor der Terrasse ließ er sein Rad einfach fallen und kletterte die Holzstufen hinauf.

„Welch schöner Besuch“, empfing Viola ihn froh und reichte ihm die Hand. „So geht heute doch nochmal die Sonne auf. Komm, setz dich zu mir.“ Sie deutete auf die Bank neben sich. „Kommst du einfach so?“

Ole legte seine kleine Hand in ihre und setzte sich. „Nein, nicht einfach so. Ich will dich was fragen. Henrik hat gesagt, ich soll sagen: Um was bitten.“

„So, hat er das gesagt?“ fragte Viola wie leichthin, doch ihr Atem verriet das Gegenteil. „Wo ist er denn? Fürchtet er sich etwa vor mir?“

„Henrik doch nicht.!“ Ole baute sich im Sitzen zur vollen Größe auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der fürchtet sich vor keinem.“

„Warum komm er dann nicht mit?“

„Das habe ich auch gefragt. Aber er hat gelacht und gesagt: Ich habe deine Viola in diesem Jahr schon einmal gesehen, das muss reichen, sonst gehe ich ihr nachher noch auf die Nerven.

Er holt mich gleich wieder ab, aber unten an der Straße.“

Er hat gesagt: Das muss reichen, dachte Viola. Er hat nicht gesagt: Das reicht. Sie atmete auf.

„Und jetzt erzähl, Ole“, sagte sie fröhlich und strich ihm aufmunternd über die rotblonden Locken. „Ich bin gespannt.“

Ole nickte, schluckte tapfer, und Viola erfuhr in den nächsten Minuten, dass für Ole in der nächsten Woche die Entlassungsfeier aus seinem Kindergarten anstand. Die Leiterin hatte gefragt, welche Kinder Haustiere zu Hause hätten, und nachdem zahlreiche Kinder von ihren Wellensittichen, weißen Mäusen, Hamstern, Meerschweinchen und Hunden erzählt hatten, hatte sie vorgeschlagen, die Tiere sollten doch mitkommen zur Feier. Dann könnten alle Kinder sie mal kennenlernen.

„Gute Idee“, lobte Viola. „Und du nimmst Tiger mit, nicht wahr?“

Ole nickte, hielt aber den Kopf gesenkt, die Hände hatte er zwischen die Knie geklemmt. „Ich habe dann aber mit Maori angegeben“, gestand er schließlich kleinlaut. „Ich hab gesagt, ich bringe Viola mit ihrem Papagei mit. Der kann sprechen.“ Oles Schultern sanken noch tiefer herab. „Henrik hat gesagt, wer so angibt, der muss es allein ausbaden.“

„Na ja…“ Viola zögerte. „Ganz unrecht hat er nicht. Und wie willst du das jetzt machen?“

„Ich-ich könnte dich doch fragen, ob du, ob du mir nicht  hilfst und mit Maori zu der Feier kommst.“ Ole seufzte erleichtert auf, als alles raus war.

Viola lachte. „Dumm bist du nicht, Ole.“Sie stand auf und ging ein paar Schritte auf der Terrasse hin und her, während sie überlegte.

„Bitte, Viola“, drängte Ole. „Dann könnte keiner Angeber zu mir sagen.“ Und noch einmal, leise: “Bitte.“

Auf Violas Gesicht legte sich ein nachsichtiges Lächeln, was Ole sofort richtig deutete. Er sprang auf, stürzte auf Viola zu und schaute zu ihr auf. „Machst du es?“ fragte er atemlos.

„Ich kann dich doch jetzt nicht im Stich lassen, Ole. Aber das wird ein Gezeter werden, wenn Maori noch auf andere Katzen als auf Tiger trifft. Na ja, wir werden es ja erleben.“Viola strich wieder über den rotblonden Schopf an ihren Knien.

„Danke, Viola.“ Ole richtete sich nach diesen Worten zur vollen kleinen Größe auf, breitete die Arme aus und winkte Viola mit energischer Handbewegung zu sich herunter. „Komm küssen.“

Viola wollte etwas antworten, aber in diesem Moment drang unten aus dem Tal ein zweimaliges kurzes, energisches Hupen herauf.

„Henrik ist schon da, ich muss los.“ Ole winkte Viola noch heftiger herunter. „Komm schnell, küssen.

Violas helles Lachen schallte vom Wald wider. Sie beugte sich hinunter und genoss die kleinen energischen Arme um ihren Nacken und die viel zu nassen Lippen auf ihrer Wange.

Ole schnappte sein Mountainbike und legte sich in die Pedalen. Kurz vor der ersten Kurve winkte er noch einmal zurück. Es glich jedoch mehr der lässigen Entgegennahme von Huldigungen an einen Herrscher.

„Kleiner Macho!“ rief Viola ihm halblaut nach. Und als in diesem Moment die mahnende Hupe aus dem Tal zweimal kurz ertönte, setzte sie lachend hinzu: “Kein Wunder, bei dem Vater!“

 

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