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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 22

 

Henrik war an diesem Abend spät dran. Normalerweise fuhr er über die Autobahn nach Köln, aber an diesem schönen Sommertag hatte er spontan beschlossen, über die Dörfer zu fahren,

weil er etwas von der Landschaft und den Menschen sehen wollte. Und das sollte auch in Erfüllung gehen, denn kaum war er eine halbe Stunde unterwegs, als er in einem der Dörfer in

einen Festumzug geriet, der ihn zum Parken am Dorfeingang nötigte. So kam er eine Viertelstunde zu spät in Köln an.

„Mist!“ fluchte er beim Aussteigen nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Ausgerechnet heute! Na, ich sehe schon den missbilligenden Blick der Dame.“

An der Glastür zum Eingang schoben sich zwei Studenten vor ihm hinein. Henrik hörte einen von ihnen sagen: „Es wird bestimmt wieder brechend voll drin sein. Wer hätte das gedacht, dass aus unserer Viola mal so was wie ein Popstar der Biologie werden würde.“

Henrik hing dieser Satz noch im Ohr, als er mit den beiden Studenten leise die Tür zum großen Vortragssaal öffnete und drinnen auf der Stelle verharrte, weil der Raum für die Projektion von Bildern verdunkelt war. Erst nach ein paar Minuten hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt, und er ließ sich auf einen leeren Außensitz der letzten Reihe nieder.

Popstar der Biologie, hörte er den Studenten noch bewundernd sagen, und als in diesem Moment Violas Stimme klar und mit angenehmer Lautstärke aus den Lautsprechern im Saal klang, da ließ sich Henrik tief in seinen Sitz sinken und lauschte mit geschlossenen Augen dem Sprudeln der Stimme, das ihm wie von Heidelerche und Quelle zugleich vorkam. Eine lange nicht mehr gefühlte Wärme breitete sich in seiner Brust aus, und er wünschte sich, dass dieser jetzige Moment sehr lange dauern möge.

Doch Henriks Wunsch erfüllte sich nicht. Plötzlich gingen alle Lichter im Saal an. Henrik setzte sich auf und versuchte zu verstehen, was um ihn herum vor sich ging.

Oben auf der leicht erhöhten Rednerbühne bückte sich Viola gerade, hob den Stecker eines Kabels auf und hielt ihn den Zuhörern entgegen. „Die eigenwillige Technik war es diesmal nicht“, entschuldigte sie sich freundlich. „Ich habe mit meinen Füßen den Stecker des Projektors gelöst. Ich bitte um Entschuldigung. Gleich geht es weiter. Nur einen…“

Viola brach mitten im Satz ab. Ihre Augenbrauen hoben sich, ihre Augen wurden kugelrund, als sie Henrik in der letzten Reihe entdeckte. Er hatte sich wegen seiner langen Beine halb auf seinem Sitz gedreht und streckte sie in den Gang hinein. Dennoch war seine Haltung angespannt, und so sah Viola ihn auch zu sich her blicken.

Im ersten Moment war Viola völlig verblüfft, ihre Gedanken drehten sich. Henrik ist hier! Und sofort wurde sie verlegen, weil ihr bewusst wurde, dass sie ihn spontan Henrik genannt hatte und nicht Herr Olsen. Dann aber stieg helle Freude über sein Kommen in ihr auf, sie wurde sichtbar und hörbar übermütig.

„Liebe hoffentlich Gleichgesinnte!“ rief sie heiter. „Nachdem ich eingangs alle Honoratioren hier unten in der ersten Reihe begrüßt habe, weil dies mit Blick auf ihre Spendierlaune, mit der sie Veranstaltungen wie diese erst möglich machen, unablässig ist, nehme ich die Gelegenheit unserer technische Panne wahr und begrüße mit tiefer Verbeugung noch einen weiteren Würdenträger in unserer Mitte. Einen, den ich eben nicht begrüßen konnte, weil er da noch nicht da war.“ Viola streckte weit den Arm aus und wies in Richtung Henrik. „Herr Henrik Olsen, würden Sie sich bitte in voller Länge dem niederen Volk zeigen und bei dieser Gelegenheit auch unsere Glückwünsche für ihre erfolgte Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste entgegennehmen?“ Dann legte Viola, wie es ihre Art war, wenn sie erschrocken war, ihre Hand vor den Mund, und leise war sie zu vernehmen: “Mein Gott, was für ein Satz!“

Violas Übermut übertrug sich auf Henrik. Er erhob sich, winkte lächelnd und nahm mit majestätischem Winken die Huldigung an.

Viola schloss den Projektor an und dämpfte das Licht. Sofort herrschte wieder aufmerksame Anspannung im Saal, die erst durch lauten, herzlichen Schlussbeifall unterbrochen wurde, nachdem Viola gesagt hatte: “Das war es für heute, meine Lieben. Danke für Ihr Interesse. Und hoffentlich bis zum nächsten Mal.“

Viola brauchte sich nicht darum zu kümmern, dass die Technik abgebaut wurde, das übernahmen ein paar Jugendliche vom Naturschutzbund. So packte sie ihre Datenträger zusammen und verließ schon bald darauf das Gebäude, um die Straßenbahn zu erreichen, die sie zur Wohnung ihrer beiden Freundinnen aus Studienzeiten bringen sollte. Als sie im Halbdunkel an den Parkplätzen vorbeikam, stieß sie beinahe gegen Henrik, der gerade die Tür seinen Pickups geöffnet hatte und seine bunte, ärmelloseWeste hineinwarf.

„Sie noch?“  fragte Viola halblaut.

„Sie ja auch noch“, antwortete Henrik und kam einen  Schritt näher. „Aber ich wollte gerade los. Wo parken Sie?“

„Ich fahre nach den Vorträgen nicht zurück. Ich habe eine private Bleibe unweit von hier.“

„Soll ich Sie hinfahren?“

Viola schüttelte den Kopf. „Das sind nur zwei Stationen mit der Straßenbahn. „Die nutze ich gerne, um ein wenig abzuspannen.“

Henrik nickte, reichte Viola die Hand. „Dann gute Nacht, Viola Meiners“, sagte er gedämpft. „Schlafen Sie gut.“

„Danke, Sie auch.“ Viola nahm die feste, warme Männerhand und legte die ihre zögernd hinein, drückte dann aber fest zu. Dann lachte sie. „Gut schlafen aber erst zu Hause. Nicht während der Fahrt!“

„O.k.“ Henrik lachte auch. „Ich werde mir Mühe geben.“ Er zögerte einen Moment, setzte dann hinzu: “Und was ist mit etwas Träumen? Auch das nicht?“

Viola erinnerte sich sofort an ihren nächtlichen Traum.“Wenn es keine Alpträume sind…Die

stecken einem noch wochenlang in den Gliedern.“ Violas Stimme war nur ein Flüstern.

„Ach, ich erinnere mich, dass Troll etwas von Ihrem gruseligen Traum erzählte. Aber mehr weiß ich nicht. Troll kann schweigen wie ein Grab, wenn er dies für richtig hält.“

„Ja, es war gruselig. Ich weiß immer noch nicht, was ich mit diesem Albtraum anfangen soll.“

„Meist verarbeitet das Gehirn im Traum unerfüllte Wünsche.“ Henrik lachte leise. „Bei Ihnen hätte ich aber darauf gewettet, dass Ihre unerfüllten Wünsche keinen Stoff für Albträume geben würden.“

Viola fühlte aufkommende Schwäche in ihren Beinen. „Und wovon träumen Sie vorwiegend?“ fragte sie forsch und wunderte sich nicht über ihre plötzlich leicht heisere Stimme. „Bestimmt wird es immer was Machomäßiges.“

„Was weiß so eine kleine Frau wie Sie schon von den schönen Träumen eines ausgewachsenen Machos?“ Jetzt war auch Henriks Stimme deutlich heiser. „Aber nun gute Nacht, Viola.“Er drückte behutsam ihre Hand, schwang sich in den Wagen, und war Sekunden später im Dunkel der Nacht verschwunden.

Viola stand noch lange auf dem Fleck. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach, die heiser “Viola“ gesagt hatte. Wieder fühlte sie diese angenehme Schwäche in ihren Beinen. Und auch das heftige Klopfen ihrer Halsschlagader.

Erst nach einer ganzen Weile strich sie sich über die Stirn als wenn sie etwas wegwischen wollte, setzte dann langsam einen Fuß vor den anderen. „Was weiß so eine kleine Frau schon von schönen Träumen eines Machos?“wiederholte sie beim Gehen seine Worte. Sie lachte im Dunkeln. „Ja, was eigentlich? Das wüsste ich schon verdammt gerne.“

 

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