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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 20

 

Es fiel Viola in den nächsten Tagen nicht leicht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und ihre schöne Geburtstagsfeier im Garten des Café Wolfgarten in den Hintergrund ihrer Erinnerung zu drängen. Die Stunden dort waren so von Hochstimmung erfüllt gewesen, dass sie noch lange danach dachte, sie führe wieder wie als Kind auf einem Jahrmarkt mit einem bunten Karussell. An Henrik Olsen zu denken, verdrängte sie in dieser Zeit mit großer Mühe, denn sie hätte sich sonst nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können.

Bis dann das Päckchen kam. „Viola, es ist etwas für Sie abgegeben worden“, wurde sie von ihrer Chefin, die samstags Frühdienst hatte, empfangen. Frau Wolfgarten reichte ihr ein Päckchen über die Theke, das die Größe eines Schuhkartons hatte und in einfaches braunes Packpapier eingeschlagen war.

„Nanu? Ich erwarte doch nichts.“ Dann sah Viola, dass keine Adresse auf dem Päckchen stand, es also nicht mit der Post hatte befördert werden können. Sie wollte schon die Verschnürung lösen, um das Päckchen zu öffnen, als Frau Wolfgarten verschwörerisch raunte: “Henrik Olsen hat es vor einer halben Stunde hier für Sie abgegeben.“ Und stolz setze sie hinzu: “Höchstpersönlich.“

 „Hen…?“ Viola verschluckte die zweite Silbe seines Namens. Sie fühlte, wie sie verlegen wurde, so wandte sie sich ab und klemmte das Päckchen unter den Arm. „Ach, ich kann es auch noch später öffnen, jetzt ist es Zeit, mit der Arbeit zu beginnen“, gelang es ihr wie beiläufig zu sagen.

„Aber sind Sie denn nicht neugierig?“ Frau Wolfgarten folgte Viola einen halben Schritt zur Garderobe hin. „Ich könnte das nicht, ich platze immer vor Neugier.“

Viola schüttelte den Kopf und brachte ein Lächeln zustande. Nur sie allein wusste, wie gern sie jetzt gesagt hätte: “Ich auch, Frau Wolfgarten.“

Erst in der Mittagspause, als Frau Wolfgarten schon nach Hause gefahren war, fand Viola Zeit, das Päckchen zu öffnen. Sie hatte sich in das Gartencafé zurückgezogen, das um diese Zeit noch leer war, weil sie beim Auspacken allein sein wollte. Viola wickelte die Schnüre ab und entfernte das Packpapier.  Dann hielt sie ein aus heller Linde geschnitztes flaches Holzkästchen in der Hand, das keinen Verschluss hatte. Man konnte es einfach aufklappen, was Viola auch sogleich tat. Und mit großen Augen sah sie darin ein Spielzeug-Kriegsbeil liegen, daneben ein gefaltetes Blatt Papier.

„Das Kriegsbeil“, flüsterte Viola leise und fühlte ihr Herz sofort ganz oben im Hals

schlagen. Sie faltete das Blatt auseinander und las halblaut: „Ich bin Ihnen noch ein Geburtstagsgeschenk schuldig, Frau Meiners. Das hat ein paar Tage gedauert, weil ich kein Kästchen aus dem Lager nehmen, sondern eins anfertigen wollte. Hier ist es nun. Mit der Größe war ich uneins mit mir. Für Ihren Schmuck ist es sicherlich zu groß und für ihre Liebesbriefe bestimmt viel zu klein. Aber pardon, ich wollte ja das Kriegsbeil begraben. Somit schicke ich Ihnen mein Beil. Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Und wenn Sie das Ihre künftig nicht mehr schärfen würden, wäre ich froh. Henrik Olsen.“

Viola ließ den Brief sinken. Dann reckte sie sich voller Lebenslust. „Schon wieder Karussell fahren!“ rief sie hell. „Das wollte ich doch immer.“ Sie breitete weit die Arme aus. „ Dann also los!“

 

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