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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 18

 

Es folgten für Viola Tage, die für sie gerne mehr als vierundzwanzig Stunden hätten haben können, denn neben ihrer Vorbereitung für die Vorträge in Köln wollte sie auch ihre

Arbeit für den Naturschutzbund nicht vernachlässigen. So war sie meist frühmorgens in der

Gegend unterwegs, um Daten für ihren Auftrag zu sammeln. Für Maori hatte sie bei einem Schreiner im Nachbardorf einen geräumigen Käfig anfertigen lassen, damit er tagsüber in der frischen Luft auf der Terrasse sein konnte. Ab Mittag war Viola dann meist zurück und bearbeitete auf der Terrasse ihres Blockhauses ihre Dateien.

So auch an diesem Tag, der mit strahlendem Sonnenschein begonnen hatte. Gegen Mittag war

aber ein Gewitter aufgezogen. Viola hatte schon beim ersten Sichten der dunklen Wolken am

Horizont ihre Unterlagen in den Rucksack gepackt und war zurückgefahren.

Zu Hause platzierte sie ihr Notebook behutsam auf den Tisch vor der Gartenbank, der unter einem Unterstand vor dem nun einsetzenden feinen Regen geschützt war, und begann, die Bilder von heute von ihrer Digitalkamera zu überspielen. Sie war froh gestimmt, weil alle Fotos gut gelungen waren, und so sang sie nun ziemlich laut ein paar Lieder in den Garten hinaus. Später ging sie dazu über, ihre Stimme für die bevorstehenden Vorträge zu trainieren. „Das musst du unbedingt machen, Veilchen“, hatte Anna ihr geraten. „Stimmbänder sind wie Muskeln, die kann man trainieren. Und lenk den Punkt, wo die Töne zusammentreffen, genau vorne an den Gaumen. Dann hast du eine Resonanz, die ganze Säle füllt.“

Viola war so in ihre Datensammlung versunken, dass ihr erst nach einer ganzen Weile auffiel, dass sie noch nichts von Maori auf der Terrasse gehört hatte. Maori in seinem neuen großen Käfig machte sonst stets ein ohrenbetäubendes Gezeter und schlug wie wild mit den kurzen Flügeln an seine Brust, wenn er das Motorengeräusch ihres Wagens vorn fern hörte. Heute aber war es völlig still auf der Terrasse.

Viola erhob sich und ging um den Unterstand herum, um freie Sicht auf das Blockhaus zu haben. Was sie dann sah, konnte sie im ersten Moment nicht glauben, und sie legte die Hand vor die Lippen, wie sie es immer in solchen Momenten tat: Maori saß still und zufrieden auf der Stange in seinem Käfig und ließ sich von Henrik Olsen mit Apfelstückchen füttern. Die beiden hatten ihre Köpfe am Käfigdraht zusammengesteckt, als wenn sie eifrig Pläne schmiedeten. Ab und zu sagte Henrik Olsen etwas, und Maori schlug mit den Flügeln dazu. Als er nun Viola um die Ecke des Unterstandes kommen sah, hob Henrik Olsen kurz die rechte Hand zum Gruß und wandte sich dann wieder Maori zu.

„Dürfte ich vielleicht eingeweiht werden, was das hier für eine Verschwörung ist?“ rief Viola und stapfte vor bis zur Terrasse.

„Maori, sag deiner Tyrannin, dass der Mindestgruß zwischen zivilisierten Menschen aus zwei Wörtern besteht. Guten Tag, heißt er.“ Henrik Olsen seufzte gespielt, erhob sich dann aber und reichte Viola die riesige Rechte. „Guten Tag, Frau Meiners“, sagte er wie beiläufig und nestelte einen zusammengefalteten Papierbogen aus der Brusttasche seines karierten, kurzärmeligen Hemdes.

„Tag, Herr Olsen.“ Viola bemühte sich, ihre Stirn von den Unmutsfalten zu befreien, die sich darauf gelegt hatten, seit sie sich von Henrik Olsen beim lautem Sprechen und Singen ertappt gefühlt hatte. Sie deutete auf das Papier in seiner Hand. „Das können Sie steckenlassen. Das ist die Genehmigung des Naturschutzbundes wegen der Kirsche, nicht?“ Dann holte sie empört Luft. „Überfallen Sie andere Leute eigentlich immer so unangemeldet? Wie einer, der was zu verbergen hat?“

Henrik Olsen ließ sich ihren Vorwurf nicht anmerken. Er wischte mit dem Handrücken ein paar Regentropfen von der Stirn. „Bin gerade erst gekommen. Ich wollte Sie nicht gleich stören  bei Ihren Arien.“

Viola wusste nicht, wie er das Wort “Arien“ gemeint hatte, und so vertieften sich die Falten auf ihrer Stirn wieder. „Leute, die keine zwei Töne sauber hintereinander singen können, haben leicht spotten“, fuhr sie fort. Sie winkte den Einwand, den Henrik machen wollte, ab. „Dafür sind Sie ja wohl beim Lügen besser.“ Mit demonstrativ ausgestreckter Hand wies

sie auf Henriks Pickup-Wagen, den sie nun an der Hausseite direkt vor sich hatte. „Es regnet bestimmt schon seit zwanzig Minuten, Herr Olsen, aber der Boden unter ihrem Wagen ist staubtrocken. Und was Sie sich eben von der Stirn wischten, war auch kein Schweiß, sondern Regen. Halten Sie mich für so dumm, dass ich Ihnen glaube, Sie seien eben erst gekommen?“ Viola schnaubte. „Andere Leute heimlich auszuspionieren, pah!“

Henrik Olsen ließ sich einfach nach hinten auf einen Stuhl fallen, dass dieser ächzte. Er lachte rau. „Erwischt, Frau Meiners. Ich gebe mich geschlagen.“ Er beugte er sich mit dem Rumpf nach vorn. „Ich darf Sie nicht unterschätzen, das war mir eben eine Lehre.“ Dann lehnte er sich wieder weit gegen die Stuhllehne, reckte sich wohlig. Für einen kurzen Moment, legte sich ein Schmunzeln um seine Lippen. „Dennoch, Frau Meiners“, sagte er dann halblaut mit nun warmer Stimme, „ich habe kein Schuldgefühl wegen meiner Notlüge eben.“

„Nicht mal das?“

„Nein. Wenn Ihre Stimme wie eine schimpfende Elster alles in die Flucht geschlagen hätte, dann hätte ich mich schon gemeldet. Aber so…..“

Viola stieg Röte in die Wangen. Hastig wandte sie den Kopf ab. „Ich trainiere meine Stimmbänder“, antworte sie verhalten. „Ich habe demnächst ein paar Vorträge vor vielen Leuten zu halten.“ Und mit leicht verlegenem Auflachen setzte sie hinzu: „Vor hoffentlich vielen.“

„Da bin ich mir ganz sicher.“ Henrik Olsen nickte. Dann tastete sich sein Blick wie unabsichtlich an Violas schlankem Körper hinauf, blieb an ihrer ärmellosen, sonnengelben Bluse hängen.

Viola aber hatte seinen Blick gesehen, er brannte auf ihrer Haut. „Soll ich mich umziehen?“ fragte sie herausfordernd.

„Warum?“ Henrik Olsen zog die Brauen zusammen.

„Nun, hätte ja sein können“, antwortete Viola scheinbar leichthin. „Ich habe ja noch mehr Blusen. Auch welche mit unartigen Knopfleisten.“

Mit einem Ruck sprang Henrik Olsen auf die Füße, um seine Verlegenheit nicht zu zeigen. „Können wir jetzt das Kriegsbeil wieder für eine Stunde  verstecken?“ fragte er rau und deutete auf die Obstwiese. „Sonst steht die Kirsche morgen noch da, und ich werde Ole gegenüber unglaubwürdig. Es war schwer genug, ihn heute Morgen davon abzuhalten, den Kindergarten zu schwänzen.“ Er reichte ihr die Hand, sah sie offen an.

Viola nahm die Hand, dann folgte sie Henrik Olsen, der Maori noch leise etwas zuflüsterte, ihm flüchtig mit der Fingerspitze über den Scheitel fuhr und dann mit dem Wagen voraus zur Obstwiese fuhr.

„Sie gehen jetzt am besten aus der Gefahrenzone“, riet Henrik Olsen, als er den Wagen in der Nähe der durchgebrochenen Kirsche parkte. Dann gruben sich Lachfalten um seine hellblauen Augen. „Vielleicht gibt es ja doch jemanden auf der Welt, der nicht möchte, dass Ihnen was passiert.“

„Kriegsbeil“, mahnte Viola. „Kurzes Gedächtnis?“

„Schon gut.“ Henrik nahm Sägewerkzeug vom Wagen. Viola ging zum Unterstand hinüber und sah aus sicherer Entfernung, wie Henrik den dicken Kirschstamm in Augenschein nahm. Besonders den armdicken Wulst, der sich in einer Spirale von oben nach unten um den Stamm zog. Die Kirsche war nach einem Blitzeinschlag vor Jahren mit diesem Wulst vernarbt. Er schien Henrik überhaupt nicht zu stören, denn er fuhr andächtig mit der Hand den ganzen Wulst entlang und sah dabei mehr als zufrieden aus. Dann startete er entschlossen die Motorsäge, und nach wenigen Minuten sank der Stamm gegen die offene Ladefläche des Pickups, die Henrik mit einem dicken Lederkissen gepolstert hatte.

Viola sah gebannt zu, mit welcher Kraft und Leichtigkeit Henrik Olsen die Arme um den schweren Stamm legte und ihn auf die Ladefläche schob, als wenn es eine Bohnenstange wäre.

Als wenn er ihren Blick gesehen hätte, schaute er jetzt zu ihr herüber, nachdem er den Stamm so leicht gestemmt hatte. „“Möchten Sie auch mal hinauf?“ rief er lachend und klopfte ein paar Rindenreste von seiner Hose. „Ich bin grad gut in Schwung.“

„Ich bin hier außerhalb Ihrer Gefahrenzone!“ rief Viola, ging dann aber doch näher. „Welche Skulptur schwebt Ihnen damit vor?“ fragte sie und zeigte auf den Stamm, den er jetzt festzurrte. „Aus dem Stamm wird Eva, und der Wulst wird die Schlange.“ Henrik strich bedächtig mit der Hand über den Stamm.

„Die Schlange windet sich um Eva, und Eva mag das so. Also eine ziemlich reale Skulptur, finden Sie nicht auch?“ Er sah Viola aus den Augenwinkeln an.

„Ich wette, Sie denken dabei an eine Würgeschlange, nicht wahr?“ fragte Viola.

„Donnerwetter!“Henrik nickte. „Genau!“ Er schloss fest die Ladeluke, sicherte sie. „Aber erst muss der Stamm ein paar Jahre trocknen.“ Henrik reichte Viola die Hand. „Jetzt gebe ich das Kriegsbeil wieder frei.“Er lachte.

„Mir fällt leider nichts Kriegerisches ein“, setzte Viola hinzu und seufzte gespielt. „Aber bis zum nächsten Zufallstreffen habe ich das behoben, verlassen Sie sich drauf.“

„Daran habe ich keinen Zweifel.“ Henrik stieg in den Wagen, drehte alle Fenster herunter, denn die Mittagssonne brannte jetzt.

Viola stieg die Holzstufen zur Terrasse hinauf. Und wandte sich ihrem Kea zu. „Tut mir leid, Maori. Ich hab dich eben völlig vergessen, du kriegst gleich dein Futter.“

Maori saß wie scheinbar unbeteiligt auf der Stange in seinem Käfig. Doch dann rief er plötzlich deutlich und weit vernehmbar:“Kratzbürste!“

Viola verschlug es die Sprache. Ungläubig sah sie Maori  an.

Und Maori legte nach: “Sag mal Kratzbürste, Maori. Sag mal.“

„Aha, daher weht der Wind!“ Viola drehte sich zu Henrik um, der jetzt den Motor anließ. Sie stemmte beide Hände in die Hüften und stampfte mit dem Fuß auf. Dann ballte sie eine Hand zur Faust und drohte damit in Richtung Henrik, der nun losfuhr. „Mistkerl!“ rief sie

Aber Henrik ließ als Antwort nur ein gewaltiges Lachen hören, das vom Waldrand zurückschallte. Dann war er um die erste der Serpentinen zum Tal verschwunden.

“Jetzt muss ich mich erst mal setzen“, seufzte Viola und ließ sich mit weichen Knien auf die Bank neben dem Eingang fallen.

 

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