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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 16

 

 „Wo haben Sie nur die herrliche Bräune her?“ fragte am frühen Nachmittag Frau Wolfgarten in der Bäckerei, als Viola zur Arbeit kam. Ihr Blick glitt wohlgefällig über Violas Schultern und Arme.

Viola lächelte. „Ich bin doch immer draußen, wenn ich nicht hier bei Ihnen bin. Da bleibt es nicht aus. Außerdem haben wir so einen schönen Sommer dieses Jahr.“

Frau Wolfgarten nickte zustimmend Sie war ein paar Jahre älter als Viola und hatte ein aufgeschlossenes Wesen ohne Neid. „Recht so, Viola.“ Sie ging in die Backstube und kam bald darauf mit mehreren übereinander gestapelten Backblechen zurück, auf denen sich runde, handtellergroße, dunkelbraune Taler aus Printenteig auftürmten. „Hier sind die Taler für die Sparkasse, Viola“, sagte sie und setzte die Bleche in der Nähe der Ausgangstür auf einem Tisch ab. „Wenn Sie die bitte gleich mit unserem Firmenwagen ausliefern würden? Das wäre nett, denn dort gibt es heute am späten Nachmittag eine kleine Feier zu Ehren unseres berühmten Bildhauers. Dann sollen unsere Taler hier von den Sparkassenleuten an Besucher verschenkt werden.“ Frau Wolfgarten nahm einen der Taler in die Hand und reichte ihn Viola. „Henrik Olsen ist gut getroffen, nicht wahr?“

„Ich, ich habe sie noch gar nicht gesehen“, stotterte Viola überrascht. Schon wieder Henrik Olsen! dachte sie und runzelte die Stirn. Erst redet Troll von ihm, jetzt hier Frau Wolfgarten. Ist dieser Mensch denn allgegenwärtig?

„Mögen Sie Henrik nicht?“ hakte Frau Wolfgarten ein, die Violas Stirnrunzeln bemerkt hatte.

„Ach wissen Sie“, seufzte Viola, „ich bin vor einiger Zeit mal heftig mit ihm aneinander geraten. Das war nicht sehr erfreulich.“

„Hm, seltsam. Ich kenne ihn nur als höflichen, netten Mann. Wissen Sie, er ist in unserem privaten Kindergarten im Vorstand. Sein Sohn Ole ist ja bei uns. In letzter Zeit allerdings kommt Ole kaum noch. Er bekommt ziemlich große Freiheiten von seinem Vater,  und kurz vor seiner Einschulung scheint er wohl Interessanteres im Sinn zu haben.“

Viola schwieg und betrachtete eingehend den Taler aus Printenteig. Er zeigte auf der leicht gewölbten Vorderseite ein durch Holzmodel deutlich gestaltetes Flachrelief von Henrik Olsens Kopf und Schulterpartie. Sein kräftiges Kinn, seine buschigen Augenbrauen und sein in die Ferne gerichteter Blick erinnerten Viola an einen Wikinger, der über das Meer späht.

„Sie müssen zumindest zugeben, dass er gut aussieht, nicht wahr?“ Frau Wolfgarten  musterte Viola aufmerksam.

Viola, die nicht recht zugehört hatte, nickte abwesend. Dann aber registrierte sie, dass sie gerade zustimmend genickt hatte  und errötete bis in die Haarwurzeln. „Ach, alles äußerlich“,

sagte sie hastig und machte eine abwertende Handbewegung. Sie drehte den Taler um. Auf der Rückseite war eine Backoblate angebracht, auf der kreisförmig eine Inschrift in Zuckerfolie prangte: Henrik Olsen, Bildhauer, anlässlich seiner Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste.

„Das ist doch schon was, nicht wahr?“ drängte Frau Wolfgarten neben Viola weiter „und das im zarten Alter von dreiunddreißig Jahren.“

„Zart! Dieser ungehobelte Kleiderschrank und zart! Ich lache mich schief“, protestierte Viola und gab Frau Wolfgarten den Taler zurück.

„Wenn Sie ihn mal richtig kennenlernen, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern.“ Frau Wolfgarten kam einen Schritt auf Viola zu und flüsterte ihr zu: “Ich hab eine Schulfreundin bei der Post. Sie hat mir verraten, dass Henrik Olsen täglich einen Stapel Fanpost bekommt.“ Sie lachte verschwörerisch. „Darunter viele Briefe mit Parfümduft und in Pastelltönen.

Wenn Sie wissen, was ich meine, Viola“ Sie hob die Bleche an und legte sie in Violas Hände. Dann steckte sie ihr den Autoschlüssel in die Schürzentasche.

„Das ist kein Grund für mich, meine Meinung zu ändern.“ Viola schüttelte energisch den Kopf, nahm die Bleche und verließ die Bäckerei in Richtung Firmenwagen, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite parkte.

Etwa eine halbe Stunde später hatte sie ihren Auftrag erledigt. Auf dem Weg zur Ausgangstür kam sie an Henriks Skulptur “Der blinde Seher“ vorüber, die heute für die bevorstehende Feier aus der Glasvitrine herausgenommen worden war.

Violas Schritt stockte, sie ging näher. Ganz nahe heran schließlich, nicht ohne vorher einen Blick nach draußen durch die breiten Scheiben geworfen zu haben, als wenn sie sich vergewissern wollte, dass niemand sie sähe.

Und wie schon beim ersten Anblick der Skulptur, schlug auch diesmal der starke Ausdruck Viola in ihren Bann. Ihr Blick tastete jede Linie ab, folgte den Rundungen, Vertiefungen, blieb wie gebannt an den Augen des Sehers hängen, die blind waren und doch alles auf der Welt zugleich zu sehen schienen. Und ohne, dass es Viola recht bewusst wurde, tastete sie nun behutsam mit den Fingerspitzen über die Skulptur und fühlte erschauernd das glatte, weiche Lindenholz. Sie war so in den Anblick versunken, dass sie keinen Blick für das hatte, was draußen auf dem Vorplatz und der vorbeiführenden Straße vor sich ging. So bemerkte sie auch nicht den Pickup-Wagen, der sich auf der Suche nach einem Parkplatz langsam näherte. Am Steuer saß unübersehbar Henrik Olsen, neben ihm Troll der Maler, und dazwischen leuchtete Oles rotblonder Schopf.

„Wir hätten außerhalb der Innenstadt parken sollen“, brummte Henrik und spähte hinaus. „Alles voll, wie immer.“

„Und das nur, weil mein Selbstgestrickter wieder nicht anspringen wollte“, setzte Troll zerknirscht hinzu. „Ich glaube, ich verschrotte ihn nun doch bald. Aber dennoch danke, Henrik, dass du mich zur Sparkasse gefahren hast. Ich bin nämlich seit gestern ohne einen Cent Geld, und bei mir draußen steht nirgends ein Automat.“

„War doch klar, Alter“, brummte Henrik und senkte den Kopf, um besser hinausspähen zu können.

„Da drinnen steht Viola!“ rief da Ole hell und rutschte vom Sitz. „Halt mal an, Henrik!“ Er wies mit seiner kleinen Hand auf die Scheiben der Sparkasse, durch die man nun deutlich die junge Frau erkennen konnte, die gerade behutsam mit der Hand über die Skulptur strich.

„Tatsächlich.“ Troll wischte sich über die Augen. „Der Seher beeindruckt sie stark, nicht wahr,

Henrik?“

„Hm.“ Henrik Olsen sah auch genau, was da im Vorraum der Sparkasse vor sich ging. Er schien es jedoch nicht einordnen zu können, denn er fuhr sich unschlüssig mit der gewaltigen Rechten über das Kinn. Eine Mischung aus Freude und Verwunderung lag in seinem Blick.

Dann steuerte er den Wagen an den Straßenrand, denn er hatte einen freien Parkplatz entdeckt. Doch ehe die Räder noch ganz zum Stillstand kamen, rutschte Ole über Trolls Knie zur Beifahrertür, drückte sie auf, sprang hinunter und war nach wenigen Sekunden wild mit den Armen rudernd in den Vorraum der Sparkasse gelaufen.

„Verdammt nochmal, spinnt der?“ rief Henrik ihm hinter her. Da ihm aber klar wurde, dass sein Sohn ihn nicht hören konnte, stieß er die Wagentür an seiner Seite auf und hetzte in langen, wuchtigen Sätzen hinter Ole her.

Troll wollte auch aussteigen, um Geld abzuheben, ließ es aber sein, als er sah, was da drinnen vor sich ging. Er brachte sein faltiges Gesicht an die Windschutzscheibe, damit ihm nur ja nichts entging. Und mit immer größer werdenden Augen sah er Viola neben Henriks Skulptur stehen,  jetzt dem großen Mann in der Eingangstür zugewandt. An ihre Rechte hatte sich Ole geklammert und hielt sie mit aller Kraft fest.

Henrik schien seinem Sohn wohl zuzurufen, er solle zu ihm kommen, Ole aber rief etwas zurück, schüttelte wild den Kopf und stapfte dabei protestierend mit dem Fuß auf.

„Donnerwetter!“ entfuhr es Troll. „So habe ich Ole ja noch nie erlebt!“ Es gefiel ihm aber, was dort drinnen vor sich ging, denn die Falten um seine Augen schlossen sich zu Lachfalten zusammen. Und als er jetzt sah, wie fest Viola Oles schutzsuchende Hand hielt, wie sie den riesigen Mann an der Eingangstür mit kämpferisch vorgerecktem Kinn herausforderte, den Kopf schüttelte, da knallte Troll im Pickup die Hand auf das Sitzpolster, dass der Staub aufwirbelte.

Und als Troll schließlich noch sah, dass sein Freund Henrik dort in der Sparkasse den Kampf verlor, was er daraus schloss, dass sich der hünenhafte Mann unschlüssig den Kopf kratzte und kopfschüttelnd zum Ausgang ging, da hüpfte Troll im Pickup im Sitzen und rief laut seine neuen Lieblingsworte: „Sakra, aber auch! Sakra!“

 

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