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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 13

 

Violas nächste Tage waren mit konzentrierter Arbeit für den Forschungsauftrag des Naturschutzbundes ausgefüllt. Schon jeweils in der Morgendämmerung verließ sie ihre Blockhütte, nachdem sie Maori mit Futter und liebevollem Kraulen zwischen seinen Kopffedern bis zum Mittag versorgt hatte. Sie hatte jetzt einen anderen Beobachtungshügel am Hochmoor gewählt, in dessen Umgebung die Flora durch neue Wasserstauungen viele typische Moorpflanzen aufwies. Sie hatte den Hügel so gewählt, dass sie den bisherigen mit seinen Birken und dem Wacholder stets gut in der Ferne sehen konnte. Ich will Troll auf keinen Fall verpassen, wenn er mit seiner Staffelei zum Malen kommt, hatte sie sich vorgenommen. Ich muss endlich eine Deutung meines seltsamen Traumes erfahren, sonst beschäftigt er mich noch, bis ich alt und klapperig bin.

Aber der alte Maler ließ sich nicht blicken, sooft Viola auch die Moorebene bis zum Horizont mit ihrem Fernglas absuchte. „Hoffentlich geht es ihm gut“, murmelte sie dann manchmal leise vor sich hin. Und was ihr bisher hier oben noch nicht passiert war, geschah jetzt: Sie fühlte sich einsam. Sie  fühlte oft ein feines Ziehen in der Brust , und sie wusste, dass dies die Sehnsucht nach Menschen war.

So auch an diesem Morgen, der pastellfarben und mild über das Moor aufgegangen war. Aber seine Farben und die Sommerdüfte hatten Viola heute nicht erreicht, sie fühlte sich bedrückt, eine Spur melancholisch, -was ihr sonst völlig fremd war. So packte sie schon gegen elf Uhr in einem plötzlichen Entschluss ihren Rucksack und schulterte entschlossen den leichten Hocker. „Es reicht für heute!“ sagt sie sehr laut, als wenn sie darauf hoffe, dass ein Echo sie bestärke. „Maori wird sich freuen. Ich habe  zwar heute erst um zwei Uhr in der Bäckerei Dienst, aber ich könnt ja schon eine Stunde früher in den Ort fahren, da kann ich noch etwas bummeln und Schaufenster gucken.“

Viola betrat also kaum zwei Stunden später die Bäckerei Wolfgarten, um dort ihren kleinen Lederrucksack  zu deponieren, denn sie wollte ohne ihn durch den Ort bummeln. Außerdem wollte sie nicht, dass seine Träger ihre luftige, sonnengelbe Bluse auf den Schultern in Falten drückte.

Kaum schloss sich die Tür hinter Viola, war es vorbei mit ihrem Einsamkeitsgefühl, denn ihre Chefin kam lachend auf sie zu und deutete durch die große Schaufensterscheibe nach draußen. „Sie haben Besuch, Viola. Eine junge Frau aus Aachen. Sie sagt, sie sei ihre Freundin.“

Violas Kopf ruckte herum. Tatsächlich! Draußen auf einer Bank am Fluss saß Anna und baumelte mit den Beinen.

„Anna!“ rief Viola und stürzte hinaus. Und draußen noch einmal: “Anna!“

Frau Wolfgarten in der Bäckerei lächelte froh, als sie sah, dass sich die beiden jungen Frauen entgegeneilten und umarmten. Bald darauf sah sie sie beiden auf der Bank sitzen, einander zugewandt, lebhaft gestikulierend. Ein Lächeln in Erinnerung lag auch noch um Violas Mund, als sie ein paar Stunden später nach ihrem Nachmittagsdienst nach Hause fuhr. Sie hatte sich sehr gefreut, dass Anna sie besucht hatte, auch wenn diese nur auf der Durchreise von der Druckerei des Naturschutzbundes war, die nicht weit von hier entfernt lag. Aber die kurze Zeit, die sie zusammen auf der Bank am Fluss verbracht und Neuigkeiten ausgetauscht hatten, hatte ausgereicht, ihre Freundschaft wieder einmal zu beleben und beide in schöner, dankbarer Stimmung zurückzulassen.

Als Viola die Kreisstraße verließ und die Serpentinen des Waldweges zu ihrer Blockhütte hinauf kurvte, zog sie plötzlich prüfend die Luft ein. „Nanu?“ murmelte sie mit gerunzelter Stirn. „Das riecht nach fremdem Auto hier. Und diesen Duft kenne ich doch…“

Kaum, dass sie die letzte Kurve genommen hatte, sah sie den Grund für den seltsamen Motorenduft: Direkt vor der Holzterrasse parkte Trolls vorsintflutliches Gefährt. Es schien noch nicht lange dort zu stehen, denn aus dem Auspuff ringelten sich weißblaue Wölkchen.

„Und da hatte ich heute Morgen das Gefühl, hier oben einsam zu sein“, murmelte Viola, wobei die Stirnfalten von ihrer Stirn wichen, denn sie fühlte helle Freude in sich aufsteigen, als sie sowohl Troll als auch Ole Olsen auf der Holzbank auf der Terrasse sitzen sah.

Ole hielt eine graue Katze auf dem Arm und kraulte sie. Viola stieg schnell aus, sprang die Terrassenstufen hinauf. Die beiden auf der Bank grinsten verschmitzt und erhoben sich „Wir wollten nur mal sehen, wie du auf unangemeldeten Besuch reagierst.“ Troll hatte schon die knorrige Rechte gehoben, um sie Viola auf die Schulter zu knallen, ließ es dann aber im letzten Moment doch sein. Er wies auf die Katze, die jetzt gähnend ihr Maul aufsperrte. „Das ist Tiger, Oles Katze. Und das ist Ole.  Aber ihr kennt euch ja.“

„Und ob!“ Viola ging in die Kniebeuge und sah Ole freundlich in die blaugrünen Augen. „War das deine Idee?“fragte sie leise.

Ole nickte heftig. „Ich habe Tiger mitgebracht, meine Wildkatze. Sie will mal gern deinen Papagei sehen.“

„Nicht ganz Wildkatze“, raunte Troll leise zu Viola. „Wohl nur halb. Aber das hast du sicher längst gesehen, Mädchen.“

Viola nickte. „Das kommt selten vor, dass sich Haus-und Wildkatze mischen. Obwohl das viele Leute glauben. Aber hier war es wohl der Fall.“

„Kluges Mädchen, wusste ich es doch.“ Troll nickte zufrieden. Dann zeigte er auf Ole. „Er nervt mich schon seit Tagen, dich und deinen Papagei zu besuchen. Aber wenn du absolut keine Zeit hast...“

„Das geht schon in Ordnung so“, schwächte Viola ab. Dann zögerte sie. „Nur, Maori, mein Kea, kann Katzen nicht ausstehen. Das wird gleich ein Gezeter geben.“ Damit schloss sie die Holztür auf und ging ins Haus, kam kurz darauf mit Maori auf dem Handrücken zurück. Die andere Hand legte sie beschützend über den Kopf des Vogels. Erstaunt sah sie dann aber, wie Maori nur den Kopf auf die Seite legte und die Katze aufmerksam in Augenschein nahm. Ohne das sonst übliche Geschrei und Flügelschlagen.

„Nanu?“ staunte Viola und nahm die beschützende Hand über Maoris Kopf weg. „Das ist ja ganz neu, dass du kein Geschrei machst.“

„Das hängt sicher mit Ole zusammen. Mit dem kann auch niemand Streit haben.“ Und nach kurzer Pause setzte er hinzu: „Mit seinem Vater übrigens auch nicht.“

„Wie bitte?“ empörte sich Viola sofort und prustete vernehmlich. „Das habe ich aber genau gegenteilig erlebt.“

„So? Ihr kennt euch?“ Troll verzog sein faltiges Gesicht zu einem breiten Grinsen.

„Leider!“ Viola stampfte leicht mit dem Fuß auf. „So ein Rüpel!“

„Da scheint es ja ordentlich geknallt zu haben“, rief Troll. „Tja, wer Henrik nicht kennt, kann manchmal wirklich diesen Eindruck haben.“ Nun legte er doch seine Hand auf Violas Schulter und drückte sie. „Glaub mir, Mädchen, er ist in Wirklichkeit ganz anders“, raunte er leise.

„Das magst du erzählen, wem du willst,  nur mir nicht!“

Troll wandte sich Ole zu, der nun auf dem einen Arm seine Katze und auf dem anderen den Kea trug. Die beiden musterten sich aufmerksam, blieben aber friedlich.

„Guck dir als Beispiel die beiden an“, sagte Troll zu Viola und erhob sich. „Es geht schon, wenn man sich Mühe gibt.“

„Ich bin aber weder ein Kea noch eine Katze“, protestierte Viola.

Trolls Lachfalten zogen sich breit um seine Lippen. „Gott sei Dank. Man sieht es. Und das mit Vergnügen“ Er  ging nun auf den Obstgarten zu. „Ich will mal nach den Apfelbäumen sehen.“

„Kann ich mit? Ich wollte dich etwas Wichtiges fragen.“

„Na klar. Komm nur dort auf die Bank unter der alten Kirsche.“ Troll hatte an Violas Gesicht abgelesen, dass etwas Wichtiges sie sehr bedrücken musste.

So erfuhr denn der alte Maler Troll, zu dem Viola tiefes Vertrauen empfand, von ihrem Traum, der sie die ganze Zeit nicht aus seinen Fängen gelassen hatte.

Troll hörte der jungen Frau neben ihm auf der Bank zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Als Viola schließlich zu Ende erzählt hatte und den alten Maler mit fragend großen Augen ansah, heftete dieser seinen Blick lange schweigend auf seine Fußspitzen vor sich im Gras. Schließlich rieb er sich unsicher das Kinn. „Tja, Viola, dein Traum hat es aber in sich. Was denkst du selbst denn davon?“

Violas Worte kamen wie ein Hilferuf: „Ich tappe immer noch völlig im Dunkeln, Troll. Besonders der Moment meines Traumes macht mir zu schaffen, wo diese Frau mit meinem Aussehen mir wohl sagen will, dass ich etwas nicht vergessen soll. Etwas, das mit dem Licht zusammenhängt. Was meinst du dazu?“

Troll sah Viola ernst an. „Hast du dich mal mit spiritueller Energie in dieser Richtung beschäftigt?“

„Um Gottes willen! Zu so etwas habe ich überhaupt keinen Draht. Träume waren bisher für mich nur Versuche der grauen Gehirnmasse, Ordnung in Erlebtes zu bringen, nichts anderes.“ Viola strich sich energisch das sonnengelbe T-Shirt über den Hüften glatt.

„Genau das ist es aber doch, Mädchen.“ Troll beugte sich zu Viola hin. „Dein Traum zeigt, dass du dir etwas ganz stark wünschst. Es gibt da wohl eine Verbindung mit den Worten, die dir jene Frau in deinem Traum gesagt hat, die du aber vergessen hast. Das müssen wichtige Worte für dich sein.“

„Sosehr ich auch nachdenke, mir fällt es nicht mehr ein. Es ist einfach weg.“

Troll nickte Viola aufmunternd zu. „Aber vielleicht hebt sich der Vorhang um dieses Geheimnis ja schon bald. Manchmal kann man hinterher gar nicht begreifen, dass man sich um etwas so lange Gedanken gemacht hat. Ich wünsche es dir jedenfalls, Viola.“

Viola erhob sich und drückte Troll einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Danke, dass du mir zugehört hast.“ Viola zeigte auf die Holzterrasse, wo Ole, die Katze und der Kea friedlich miteinander spielten. Maori hatte gerade Tigers buschigen Schwanz mit dem Krummschnabel erwischt, biss aber offenbar nicht zu, denn die Katze lag lang ausgestreckt auf dem warmen Holz und genoss mit geschlossenen Augen Oles Kraulen.

„Welch friedliche Idylle!“ Viola kam mit Troll von der Bank zurück. Ihr lockerer Gang verriet, dass das Gespräch mit Troll ihr gut getan hatte.

Da wusste Viola noch nicht, dass dieser Frieden in einer halben Stunde vorbei sein würde. Ganz und gar vorbei, wenn Henrik Olsens Pickup-Wagen heraufpreschen würde. Ole hatte seinen Vater  mit seinem Handy angerufen, weil Trolls selbstgebautes Gefährt nicht anspringen wollte, als sie nach Hause wollten. „Komm und schlepp uns ab, Henrik“, sagte Ole

„Und dann noch: „Bitte, Henrik.“

Und dies waren dann auch die letzten friedlichen Worte auf Violas Terrasse für die nächste Stunde.

 

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