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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 12

 

Maori weckte Viola am nächsten Morgen mit lautem Gezeter. Sie rieb sich schlaftrunken die Augen, dann warf sie einen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. „Mein Gott, schon neun Uhr!“ rief sie erschrocken und schwang die Beine aus dem Bett. „Maori, in zehn Minuten hast du dein Frühstück!“Dann eilte sie ins Badezimmer. „Und in zwei Stunden muss ich im Burgblick sein, obwohl heute am Dienstag bestimmt nicht viel los ist.“

Sie beeilte sich. Eine Stunde später fuhr sie los. Diesmal nahm sie wieder den Weg über Heidgen nach Monschau, der etwas kürzer als der Weg über die Hauptstraße war. Und als wenn sie es geahnt hätte, sah sie in der Höhe des Hauses, das Henrik Olsen mit seinem Sohn Ole bewohnte, einen alten, lindgrünen , amerikanischen Pickup-Kastenwagen aus der Ausfahrt auf die Straße biegen

Viola war froh, dass der Wagen, der auch in Richtung Monschau fuhr, etwa zweihundert Meter vor ihr fuhr, denn sie hatte an diesem Morgen keinen Nerv, Henrik Olsen zu begegnen, dessen riesenhafte Gestalt unübersehbar den Platz hinter dem Steuer füllte. Dennoch erblickte Viola aber auch für kurze Sekunden den kleinen Rotschopf am Fenster der Beifahrerseite. Ole. Violas Herz machte bei seinem Anblick einen kleinen Hüpfer, was sie selbst erstaunte, aber auch gut tat, denn sie begann jetzt leise zu summen.

Minuten später trat sie ihren Dienst im Café an. Sie trug heute einen dunkelblauen Glockenrock, dazu bequeme, beigefarbene Leinenschuhe und eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln, deren Knopfleiste mit einer hellblauen Bordüre verziert war. Ihr Haar hatte Viola hochgesteckt. Zwei kleine Ohrhänger mit jadefarbenen Steinchen darin brachten die sonnengebräunte Haut an ihrem Hals zur Geltung.

„Hei, wie fesch du bist“, begrüßte sie denn auch Frau Berghaus. „Aber das bist du ja eigentlich immer.“ Und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: „Ach, damit  du dich gleich darauf einstellen kannst: Mein Mann und du, ihr müsst heute Nachmittag den Betrieb hier alleine schmeißen. Ich fahre zum Klassentreffen nach Bonn.“

„Kein Problem. Heut scheint es ja ruhig zu bleiben, wie meistens dienstags“, hatte Viola fröhlich lächelnd geantwortet. „Da wünsche ich Ihnen viel Freude mit der früheren Schulklasse.“

Schon kurze Zeit später merkte Viola, dass eine merkwürdige Spannung in der Luft lag. Und die ging von Viktor Berghaus aus. Kaum, dass seine Frau das Haus in Richtung Bonn verlassen hatte, war er um Viola herum. Häufiger noch als in den letzten Tagen. Unablässig fragte er sie Kleinigkeiten, die sich auf die Ware im Schaufenster oder in den Regalen bezogen. Oder er erkundigte sich nach Violas privaten Dingen, was er bisher noch nie getan hatte.

Viola merkte bald, dass sie ihrem Chef heute am besten aus dem Weg ging. Das tat sie dann auch. Sie ordnete die Regale im Nebenraum des Cafés, der durch eine breite, immer geöffnete Tür mit dem Café verbunden war. Spezialitäten der Gegend, wie Printen oder Senfprodukte, lagerten in nach zwei Seiten offenen Regalen, die bis zur Decke reichten, und durch die man hindurchsehen konnte, wenn sie nicht gerade völlig zugestapelt waren.

Wenn es möglich war, hielt sich Viola heute auch viel in der Küche auf, wo ein Koch und zwei weibliche Hilfen Suppen oder Toastgerichte zubereiteten. Normalerweise mied Viola die Küche, denn hier wurde wirklich der ganze Tratsch der Gegend breitgetreten, was Viola ein Gräuel war. Doch hier in der Gegenwart der anderen fühlte sich Viola sicherer als draußen im noch leeren Café allein mit Viktor Berghaus.

Doch auch mit ihrem Ausweichen konnte Viola nicht verhindern, was dann am frühen Nachmittag passierte: Sie reckte sich gerade in der hintersten Regalreihe im Nebenraum mit einigen Schachteln Gebäck weit nach oben, um sie dort zu stapeln, als sie einen Arm um ihre Taille fühlte. Der Arm zog sie nach rückwärts, wo sie gegen Viktor Berghaus stieß, der sich sofort fest an die junge Frau drückte Seine rechte Hand tauchte unter Violas Achselhöhle hindurch nach vorn und legte sich auf Violas rechte Brust, die sie gierig betastete.

„Hilfe! Was soll das? Herr Berghaus!“ Viola rang nach Atem, sie wusste in ihrem ersten Schrecken nicht, was sie anderes sagen sollte. Laut um Hilfe rufen wollte sie aber nicht, denn wenn das Personal oder gar Gäste aus dem Café herbeigestürzt wären, wäre sie aus Scham in den Boden gesunken.

„Sträub dich nur nicht so“, keuchte Viktor Berghaus jetzt mit heiserer Stimme an Violas Halsbeuge. „Du weißt doch seit langem, dass ich mehr als nur ein Auge auf dich geworfen habe, meine Widerspenstige. Ich will dich. Heute ist es günstig, wo wir endlich allein sind. Komm, lass das blöde Sträuben.“

„Nein, lassen Sie das! Ich will das nicht!“ Viola gelang es mit aller Kraft, die Hand von ihrer Brust zu biegen, aber die ganze Knopfleiste ihrer Bluse riss auf und ließ die junge Frau mit einem tiefen Dekolleté dastehen. Erschrocken bedeckte sie ihre Blöße mit der freien linken Hand.

Viktor Berghaus schien Violas Widerstand zu reizen. Er presste die junge Frau noch fester an sich, stammelte heisere, unkontrollierte Worte.

In dem Moment, als Viola sich dazu entschlossen hatte, nun doch laut um Hilfe zu rufen, hörte sie Stimmen aus dem Café. Eine dunkle Männerstimme erst, dann eine helle Knaben-stimme. Und diese helle Stimme kannte sie! Kaum, dass es ihr richtig bewusst wurde, entrang sich Violas Lippen ein lautes „Ole! Junge!“

Viktor Berghaus, der die Stimmen offenbar nicht gehört hatte, umschlang nun auch mit der anderen Hand Violas Taille, rang mit der sich verzweifelt wehrenden jungen Frau. Bis er urplötzlich zurückgerissen wurde. Viola verfolgte mit großen Augen ungläubig das Schauspiel, das sich ihr bot: Viktor Berghaus wurde mit Urgewalt an das Regal hinter seinem Rücken gezogen. Seine Hände, die eben noch Viola betastet hatten, fuchtelten haltsuchend durch die Luft. Um seinen Hals lag von hinten eine mächtige Hand und zog wie mit einem Schraubstock zu.

Viktor Berghaus keuchte etwas Unverständliches. Dann war die Hand um seinen Hals plötzlich fort, dafür aber stand nur Sekunden später eine riesige Männergestalt neben Viola und Viktor Berghaus. Blicke aus hellblauen Augen stachen. „Sie brauchen kein Wort zu sagen“, peitschte die Stimme des Mannes, der blitzschnell um das Regal herum gekommen war, „ich habe alles mitbekommen.“

„Herr Olsen, bitte!“ keuchte nun Violas Chef und rang um Haltung. „Sie verstehen das falsch. Es ist nur…“

„Seien Sie still!“ Dann beugte sich Henrik Olsen zu seinem Sohn hinunter, der seinem Vater gefolgt war und nicht wusste, was hier vor sich ging. Er streichelte ihm flüchtig über die Locken. „Warte draußen im Cafe auf mich, Kleiner, ja?“ sagte er dann mit weicher Stimme. „Ich komme gleich zu dir raus. Das hier dauert nicht lange.“ Er gab Ole einen kleinen Schubs, und dieser befolgte wortlos die Worte seines Vaters.

Viktor Berghaus merkte, dass jetzt viel Unangenehmes auf ihn zukam. „Ich kann das alles erklären!“ versuchte er eine Verteidigung. „Bitte, Herr Olsen.“

Henrik Olsens Gesicht, das Viola in diesem Moment an Fotos von wilden Wikingern erinnerte, verfinsterte sich erneut. „Nichts werden sie erklären“, sagte er scharf. „Sie werden sich Ihre Worte für Ihre Verteidigung vor Gericht aufheben. Das heißt, wenn die Frau hier Anklage erhebt.“ Dann öffnete er einfach eine Tür hinter Viktor Berghaus, die zu den Kellerräumen hinunter führte, stieß den Protestierenden hindurch und schloss die Tür mit zweimaligem Schlüsseldrehen ab.

„Danke“, sagte Viola, immer noch nach Luft ringend. „Gut, dass Sie mich gehört haben.“

Henrik Olsens Miene hellte sich bei ihren Dankesworten nicht auf. „Ich habe Sie nicht gehört, das war Ole, mein Sohn. Danken Sie also lieber ihm“, sagte er grimmig. Und grimmig blieb er auch, als sein Blick auf Violas weit offenes Dekolleté fiel. Seine Lippen bildeten plötzlich nur noch schmale Striche, als wenn ihm die ganze Situation schmerzliche Erinnerung hochspülte. Dann lachte er zynisch auf, wies mit der Rechten auf Violas Brust. „Kein Wunder, dass Männer lange Finger nach Ihnen machen, wenn Sie so offenherzig herumlaufen. Schreiben Sie sich das alles hier also gefälligst selbst zu.“

Im ersten Moment glaubte Viola, nicht recht gehört zu haben. Dann aber verstand sie, dass dieses grobe Ungetüm da vor ihr sie so einschätzte, wie er es sagte. Heiße Empörung stieg in ihre die Wangen, während sie hastig ihre Bluse zuknöpfte. Also doch ein Ekel! schossen ihr Annas Worte durch den Sinn. Hätte ich mich bloß nicht bedankt! „Dann ziehe ich meinen Dank zurück, mein Herr! Aber was heißt, mein Herr? Sie, Sie unmöglicher Mensch!“ fauchte sie und schob angriffslustig ihr Kinn vor.

Viola erntete mit ihren Worten nur ein weiteres zynisches Lachen. „Dies Kompliment gebe ich gerne ungebraucht zurück“, knurrte Henrik Olsen. Er warf Viola noch einen vernichtenden Blick,  dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte hinaus.

Viola riss sich zusammen. Sie ordnete ihre Kleidung, strich die hochgesteckten Haare sorgfältig zusammen, atmete bewusst tief ein und aus. Jetzt bloß keine Unsicherheit zeigen, nahm sie sich vor. Niemand brauchte auch nur zu ahnen, was hier passiert war. Sie ignorierte das donnernde Klopfen Herrn Berghaus´ an der verschlossenen Kellertür, holte ihren kleinen Rucksack aus dem Umkleideraum des Personals und verließ mit tiefem Aufatmen das Café. Sie ging zu ihrem Wagen hinüber, den sie direkt am Flüsschen Rur geparkt hatte und rief ihre Freundin Anna an, die in ihrem Büro saß und sich gleich meldete.

Viola sprach lange mit Anna. Und mit jeder Minute hellte sich ihr Gesicht mehr auf, denn Anna sprudelte mal wieder vor Lebensenergie und Optimismus. „Du musst dir sofort was Neues suchen, Veilchen“, hatte Anna ihr geraten. „Du musst unter Menschen. Das Leben allein in der Hütte und in der Einsamkeit des Nationalparks ist nicht gut für dich. Da wirst du mit der Zeit schrullig.“

„Du bist es aber damals hier auch nicht geworden.“

„Dennoch. Ich weiß, wovon ich rede, Veilchen. Geh gleich mal rüber in die Bäckerei Wolfgarten. Soweit ich mich erinnere, suchen die immer Aushilfskräfte Und die Wolfgartens sind beide nett.“

So kam es, dass Viola ein paar Minuten später ihren Wagen abschloss und mit neuem Schwung quer über den kleinen Marktplatz der Bäckerei Wolfgarten zustrebte. Den lindgrünen amerikanischen Pickup, der aus einer Seitenstraße herausfuhr und ein paar Meter hinter Viola auf den Platz bog, sah sie nicht.

Ole aber sah Viola sofort. Er klatschte im Wagen auf dem Beifahrersitz in die Hände und rief froh: „Da ist Viola wieder, Henrik! Die mit dem Kea, du weißt doch. Die ich mit dem Rad besucht habe. Die mir gesagt hat, dass sie immer alle Tiere und Pflanzen nach ihrem Namen fragt.“

Oles kindliche Art, manche Dinge zu schildern, registrierte sein Vater diesmal nicht. Er sah der jungen, hübschen Frau nach, die da mit federndem Schritt die Straße überquerte. In deren braune, blitzende Augen er eben gesehen hatte. Ihre in Empörung rotbraunen Wangen. Das Klopfen des heftig pulsierenden Blutes in den Adern an ihrem entblößten Hals. Ihren Mund mit den geschwungenen Lippen, die ihm „Sie unmöglicher Mensch!“zugerufen hatten.

„Ist das deine Viola, von der du immer erzählst?“ fragte er seinen Sohn mit gedämpfter Stimme.

„Ja, die prima Viola!“ rief Ole und klatschte wieder voller Freude die Hände zusammen.

Henrik Olsen packte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Eine tiefe Falte kerbte sich senkrecht zwischen seine buschigen Augenbrauen Er zwang seinen Blick von der jungen Frau weg, die jetzt leichtfüßig die Stufen zur Eingangstür der Bäckerei  Wolfgarten hinaufsprang. Mit grimmiger Stimme knurrte er: „Verdammter Mist!“

 

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