zurück zu Kapitel 10    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 12

 

Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 11

 

Eine Woche verging, in der Viola stets schon frühmorgens im Hohen Venn unterwegs war. Sie hatte  die ganzen Tage über Glück mit dem Wetter, denn jeden Morgen stieg eine strahlende Frühsommersonne auf.

So auch heute, an dem Tag, an dem Viola den alten Maler Troll kennenlernte, der bald eine von Tag zu Tag immer wichtiger werdende Rolle in ihrem Leben spielen sollte. Troll, den alle, die ihn kannten, nur so nannten. Und er sich selbst auch.

 Viola hatte Maori mit Futter und Wasser versorgt, dann fuhr sie zum Hochmoor an der belgischen Grenze. Bald schwankte der lange Holzsteg, den man über das Moor gebaut hatte, unter ihren Schritten Sie nickte den Blaubeersträuchern, Torfmoosen und der Grauheide zu, die zu beiden Seiten des Steges wuchsen, und die sie alle schon in den letzten Tagen dokumentiert und in ihren Computerdateien gespeichert hatte.

„Ich komm ja schon!“ rief sie einer hellgelben Goldammer zu, die in einer sich im Wind wiegenden Birke saß und ihren etwas eintönigen Ruf unablässig wiederholte. „Bin gleich bei dir!“ Die Birke stand mit zwei weiteren in einer verschworenen Gruppe auf einer kleinen Anhöhe, die sich im Laufe der Zeit um einen mächtigen Findling aus der letzten Eiszeit herum erhoben hatte. Zwei große Wacholderbüsche und ein paar zerzauste Ginster gaben dem Hügel ein wildromantisches Erscheinungsbild.

Viola liebte diese kleine Anhöhe, von der man weit über das Moor sehen konnte, das sich bis zum Horizont erstreckte. Sie ließ sich wie jeden Tag auf der urigen Holzbank nieder, die man an der Südseite des kleinen Hügels mit langen Pfählen im Boden verankert hatte. Bald war sie in ihr heutiges Beobachtungs-Objekt, das Rohr-Pfeifengras versunken, das sich über das ganze Moor in einer endlosen gelbbraunen Matte ausgebreitet hatte, dazwischen noch zaghaft die diesjährigen grünen Triebe.

Als in diesem Moment eine Heidelerche aufstieg und unablässig trällerte, rief Viola ihr übermütig zu: „Flieg mal schnell zu Anna und sag ihr, dass ich heute mit dem Pfeifengras beschäftigt bin. Und sing ihr auch so ein schönes Lied bitte.“

„Dann musst du mir schon aufschreiben, was ich sagen soll“, ertönte in diesem Moment eine heisere Männerstimme hinter dem Hügel. „Ich bin so vergesslich.“

Viola zuckte erschrocken zusammen. Sie sprang auf, war in Sekundenschnelle um den Hügel herum-und sah in das vom Leben zerknitterte, wettergebräunte Gesicht eines etwa siebzigjährigen Mannes, der sich auf einem dreibeinigen Hocker niedergelassen hatte. Vor ihm stand eine Maler-Staffelei, darauf eine Leinwand, auf die er gerade mit langem Pinsel eine Moorlandschaft malte.

„Entschuldigung“, rief Viola halblaut, „ich habe Sie gar nicht gesehen.“

„Brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Mädchen“, antwortet der Mann, und die vielen Falten in seinem Gesicht zogen sich neben seinen Augen zu pfiffigen Lachfältchen zusammen. Er streckte die knorrige Rechte zu Viola hinauf. „Nun gib mir schon die Pfote. Ich bin Troll, der Maler. Noch nichts von mir gehört?“

Viola schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich heiße Viola. Viola Meiners.“

„Noch nichts von mir gehört? Hoho!“ lachte der Alte da auf. „Dann sei froh, dass ich dir bisher erspart geblieben bin. Ich bin nämlich in der ganzen Gegend hier als bärbeißiger Waldschrat und Unhold berüchtigt.“ Der Alte umriss das weite Moor mit einer weit ausholenden Handbewegung.

„Ich lebe nicht ständig hier“, erwiderte Viola. „Ich bewohne für ein paar Monate die Blockhütte des Naturschutzbundes, um die Artenvielfalt der gesamten Gegend hier zu dokumentieren.“

„Na, dann hast du ja vieles zu beweinen.“ Der Alte schaute finster drein. „Hast du denn Ahnung davon?“

„Ich habe Biologie studiert.“

„Hoho, eine Studierte!“ Der Alte schlug sich mit seiner schweren Hand auf die Knie, die unter braunen, speckigen Cordhosen steckten. „Kannst mich übrigens duzen. Alle tun das. Sie wissen, dass ich das ´Sie´ nicht mag. Es vertieft die Gräben zwischen den Menschen noch unnötig.“

Viola nahm die knorrige Hand, sagte aber nichts dazu. Es war ihr ungewohnt, einen Fremden so vertraut anzureden. Aber zuwider war es ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, dass dieser alte Mann hier zwar wohl ein knorriger Kauz war, aber nicht verschlagen oder böse. Seine vielen Lachfältchen und seine offenen Worte sprachen jedenfalls dagegen.

„Da, setz dich.“ Troll der Maler warf ein Sitzkissen aus Schaumstoff auf eine sandige Anhöhe neben ihm. „Biologin. Hm, das ist interessant.“Dann kratzte er sich das schlecht rasierte Kinn. „Vielleicht kann ich dich brauchen“, setzte er hinzu. „Habe da nämlich ein paar Fragen. Aber lassen wir das jetzt.“ Wieder schlug er sich auf das Knie. „Siehst ja, dass ich Maler bin.“ Er zeigte auf das Bild auf seiner Staffelei. „Hier draußen malt man halt das Moor und die Heide.“ Er zögerte. „Sag mal ehrlich: Sind dir die Farben wie vielen anderen Leuten zu düster?“

Viola schüttelte den Kopf. „Es hat aber einen seltsamen Ausdruck“, setzte sie schließlich nach einer ganzen Weile hinzu. „Es spricht mich sehr an, weil es etwas Magisches, Mystisches hat.“

„Sagtest du Magisches, Mystisches, Mädchen?“ fragte da der Alte und wandte Viola das Gesicht zu, in dem die Augen nun fragend groß waren.

„Ja. Was ist daran so seltsam?“

Troll der Maler sinnierte, dann sagte er wie zu sich selbst: „Weil mein bester Freund genau diese beiden Worte und auch genau in dieser Reihenfolge dazu gesagt hat. Und auf seine Meinung lege ich allergrößten Wert.“

„Ist Ihr, ist dein Freund auch Maler?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, Henrik ist Bildhauer. Henrik Olsen. Er lebt ein Dorf weiter, ganz in meiner Nähe. International berühmt. Sag mal, hast du noch nichts von ihm gehört? Das kann doch nicht sein.“

Henrik Olsen! Der Name fuhr Viola durch die Glieder. Für Anna der Grobian, das Scheusal. Für dieser alten Mann hier der beste Freund. Für seinen Sohn Ole der bewunderte, geliebte Vater. Henrik Olsen, dessen Skulptur Viola in der Vorhalle der Sparkasse so nachhaltig beeindruckt, ja, mitgenommen hatte! Henrik Olsen, dessen Namen sie in den letzten Tagen oft gehört hatte.

„Sag bitte, dass du Henrik kennst, Mädchen“, bat in diesem Moment Troll der Maler neben Viola. „Oder dass du zumindest mal seinen Namen gehört hast.“

Viola nickte. „Doch, ich habe schon von ihm gehört.“

„Na, siehst du!“ Der Alte wollte in seiner Freude Viola offenbar mit seiner knorrigen Hand auf die Schulter schlagen, lenkte sie aber im letzten Moment auf sein Knie um. „Dann bist du der Welt noch nicht verlorengegangen, Mädchen!“ rief er froh. „Aber nun werde ich aufbrechen.“ Er packte seine Malutensilien zusammen. „Kommst du mit?“

„Ich habe zwar noch nichts geschafft, aber zu Hause habe ich auch dringende Arbeit, die auf mich wartet.“ Viola nickte. „Gut, bis zur Straße, da habe ich geparkt.“ Sie schulterte ihren kleinen Rucksack und folgte dem alten Mann, der mit krummen Beinen vor ihr über den Holzsteg stapfte.

An der Straße staunte Viola über Trolls Auto, das er selbst scherzhaft als umgebauten Rasenmäher bezeichnete. „Und so etwas fährt?“

„Langsam halt. Aber ich habe es nicht mehr eilig. So komme ich auch während der Fahrt zu meinen Gedanken über die Welt. Über Auslegungen von Sinnlichem und Übersinnlichem, von Realem und von Träumen.“

„Von Träumen?“ Viola sah Troll gespannt an.

„Ich versuche es. Warum?“

Viola zögerte. "Weil ich einen Traum hatte, der mir viele Rätsel aufgibt. Er lässt mir keine Ruhe. Und auch kaum Schlaf.“

Troll verstaute seine Utensilien in das Gefährt, dann gab er Viola die schwielige Hand. „Behalte ihn in Erinnerung, Mädchen“, beschwor er sie eindringlich. „Wir sehen uns ja hoffentlich noch mal wieder.“

Viola seufzte hoffnungsvoll auf und strahlte Troll an. „Den Traum vergesse ich bestimmt nicht. Ja, dann freue ich mich auf unser Wiedersehen. Ich bin morgen schon wieder hier.“

Troll stieg ein. „Das ist lange her, Viola, dass es eine Frau so eilig hatte, mich wiederzusehen“, rief er fröhlich durch das Startgeknatter des Motors und ruckelte davon.

 

zurück zu Kapitel 10    Homepage    Inhaltsverzeichnis    vorwärts zu Kapitel 12