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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 10

 

Es wurde ein langer Nachmittag mit konzentrierter Arbeit für die beiden jungen Frauen. Sie sichteten das umfangreiche neue Material, das Viola auf den Streuobstwiesen in der Nähe des Nationalparks in der Eifel zusammengetragen hatte. Und auch die Ergebnisse aus dem Hochmoorgebiet Hohes Venn an der Grenze zu Belgien. Während sie sonst meist in guter Stimmung waren, wenn sie wie früher beim Studium zusammen arbeiten konnten, war die Stimmung heute eher gedämpft.

„Das wird lange Gesichter geben beim NABU und auch bei den Greenpeace Leuten“, seufzte Anna schließlich, „wenn wir bekunden, was seit vorigem Jahr wieder alles an Arten verschwunden ist. Hast du wenigstens deinen geliebten Siebenstern schon entdeckt?“

Viola schüttelte den Kopf. „Es ist noch ein wenig früh für den Siebenstern, Anna. Der blüht erst im Juni.“

„So bleibt wenigstens die Hoffnung.“ Anna stand abrupt auf, schloss den Bildschirm. „Komm, Veilchen, lass die Stimmung nicht ganz den Bach runtergehen. Wir machen morgen weiter. Lass uns jetzt zu Fuß in die Stadt gehen, bummeln. Und ins Eiscafé. Ich möchte heute unbedingt noch ein Eis schlecken.“

Viola nickte, dann streichelte sie Maori, der immer noch oben auf seiner Gardinenstange saß. „Du darfst gleich runter von der Stange“, raunte sie, „Anna und ich kommen bald wieder. Dein Futter kriegst du heut früher. Und sei bitte so brav wie gerade eben, ja?“

Der Kea trippelte unaufgeregt von einem Fuß auf den anderen, er war heute ruhig wie selten.

Viola folgte ihrer Freundin ins Wohnzimmer. „Hast du ein Paar Sandalen für mich? Ich hab meine glatt vergessen.“

Es kam keine Antwort, sodass Viola verwundert zu Anna hin schaute, die neben einem runden Couchtisch stand. „Was ist los, Anna?“ fragte sie, als sie Annas Gesicht sah. Es war blass, der Mund stand erschrocken ein wenig offen. Sie starrte auf Papiere und eine offen daliegende Zeitung auf dem Couchtisch.

Anna wollte mit hektischer Handbewegung die Zeitung packen und sie hinter ihrem Rücken verbergen, aber Viola hielt ihre Hand fest. „Was ist passiert, Anna?“ forderte sie mit fester Stimme. „Komm, sag es mir.“

Anna überließ ihr das Boulevard Blatt. Und Viola wurde genauso blass wie ihre Freundin, als sie die reißerische Überschrift in großen Buchstaben auf der Titelseite las: „Baltica bleibt nasses Grab für immer!“

Baltica,  hämmerte es hinter Violas Stirn. Das Fährschiff, mit dem meine Eltern und meine kleine Schwester Nadine ums Leben gekommen sind. Ertrunken in der Ostsee. Wie gebannt las Viola den Artikel, der berichtete, dass alle Bestrebungen, das im Sturm gesunkene Fährschiff einzubetonieren, aufgegeben worden waren. Dass nun Stätten für die Trauer der Hinterbliebenen in Estland und Schweden eingerichtet würden. Es folgte ein Interview mit einem Foto des Stewards, der damals unter Einsatz seines Lebens noch vier Passagiere hatte retten können. Einen fast schon ertrunkenen Kollegen, ein älteres Ehepaar aus Dänemark, und ein kleines Mädchen, das ihm aus einer der plötzlich durch den Wasserdruck aufspringenden Kabinentüren an der Steuerbordseite direkt in die Arme geschwemmt worden war.

Viola fand zurück, als sie die Hand ihrer Freundin auf ihrem Handrücken fühlte und Anna

flüstern hörte: „Entschuldige, Veilchen. Dass die Klatschpresse aber auch immer wieder

darüber schreibt!“ Anna schnaubte heftig.

Viola schüttelte die düstere Erinnerung ab. „Schon gut, Anna. Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.“ Sie seufzte und strich sich dann mit der Hand über die Stirn. „Hast es gut gemeint. Es liegt ja nun auch schon so lange Jahre zurück.“

Anna packte energisch die Berichte und Fotoserien über das Fährunglück, die sie im Laufe der letzten Jahre gesammelt hatte, zusammen. „Wie war deine Schwester Nadine?“ fragte Anna dann behutsam. „Habt ihr euch verstanden?“

Viola zuckte mit den Schultern. „Ich glaube schon, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich war doch erst drei. Die Bilder sind fast ganz aus meinem Gedächtnis verschwunden.“ Plötzlich lachte sie auf. „Ach, an eines erinnere ich mich aber doch“, rief sie aufgeregt. „Und zwar an meine Mutter, die sich damals vor Lachen ausschütteln wollte, nachdem sie mich zum Spielen mit Nadine bewegen wollte und ich protestierend gesagt hatte: „ach nee, will ich nicht. Die kann ja noch nichts. „ Nadine war doch erst eineinhalb Jahre.

„Warum warst du eigentlich auf dieser Reise nicht dabei?“ Das hast du mir sicher schon gesagt, aber ich habe es vergessen.“

„Das weiß ich noch genau. Ich bekam kurz vor der Abfahrt Masern und Scharlach,  zusammen. Meine Eltern hätten mich bestimmt nicht bei Nachbarn zu Hause gelassen, wenn sie nicht zu Opas Beerdigung gemusst hätten. Opa starb in seinem Traumland Schweden, wohin er gezogen war, als Oma starb.“ Viola seufzte tief auf. „Meine Krankheit hat mir dann aber das Leben gerettet“, setzte sie flüsternd hinzu.

„Veilchen,“ Anna nahm ihre Freundin auf dem Sofa in die Arme. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Was bin ich Masern und Scharlach dankbar!“

Viola schwieg, sie war in Gedanken versunken .Dann löste sie sich plötzlich aus der tröstenden Umarmung ihrer Freundin, griff nach ihrem kleinen, naturfarbenen Lederrucksack neben sich auf dem Sofa und zog die Lederschnüre auseinander, die ihn zusammenhielten. Sie kramte lange in den Tiefen des Rucksackes, zog schließlich äußerst behutsam ein flaches weinrotes Wildlederetui hervor und öffnete den Magnetverschluss.

„Jetzt kommt das Allerheiligste“, sagte Anna. Aber sie sagte es so, dass es nicht spöttisch klang. Gleichzeitig beugte sie sich zu Viola hin, die nun vorsichtig ein etwa drei Zentimeter breites Band aus leicht vergilbtem Leinen herausnahm und es behutsam auseinanderrollte. Das Band war nur etwa zehn Zentimeter lang, an den Längsseiten war eine blaue, leicht wellige Bordüre angenäht. Und jemand hatte mit blauem Stickgarn einen Text in vier Zeilen darauf gestickt. „Das ist alles, was ich Persönliches von Mama habe“, flüsterte Viola bewegt, strich das Band vorsichtig glatt und schlang es dann um ihr Handgelenk. „Das hat sie für mich gefertigt.“

„Ich weiß.“ Anna, die das Band kannte, nahm es von Violas Handgelenk. „Lass mich den Text darauf nochmal lesen, Veilchen.“ „Mutter hat den Spruch umgetextet“ sagte Viola, „ursprünglich hieß er: Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her; dass du es  noch einmal zwingst und von Sonnenschein und Freude singst.“

Viola schmunzelte.  „Das war Mama aber bestimmt zu kitschig, so hat sie gestickt: Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her; dass du deinen Weg erkennst und nicht in die Irre  rennst.“

Anna nickte. „Jetzt krieg ich ein genaueres Bild von ihr. Sie muss eine ziemlich realistische Frau gewesen sein.“

„Das war sie wohl.“ Viola lehnte den Kopf an Annas Schulter, schloss die Augen, unter deren Lidern jetzt zwei dicke Tränen die Wangen bis zum Kinn hinunter rollten.

„Hab dich lieb, Veilchen“, flüsterte Anna und legte den Arm um die Schulter der Freundin.

 

In diesem Augenblick erwachte Maori aus seiner Ruhe, in der er die ganze Zeit über auf seiner Gardinenstange verharrt hatte. “Olala! Olala!“ rief er, und es klang zärtlich.

Die beiden jungen Frauen sahen sich an, Lachen kehrte in ihre Augen, auf ihre Wangen zurück. „Siehst du, Veilchen“, rief Anna und erhob sich. „Noch einer, der dich liebhat.“

 

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