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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 9

 

Anna stand schon am Fenster ihrer Dachwohnung, als sie Violas Wagen kommen sah. Hastig schob sie die Gardinen ganz zurück und winkte nach unten.

Aber Viola konnte ihre Freundin dort oben nicht wahrnehmen. Sie parkte vor dem Nachbarhaus, einem schönen Jugendstilbau mit einem mächtigen Baum der Lindenallee davor.

Im Nu war Anna unten, steckte schon den Kopf zum geöffneten Seitenfenster herein, kaum dass Viola den Zündschlüssel abgezogen hatte. „Veilchen, schön, dass du da bist!“ Viola bekam einen Kuss auf die Schläfe, „und du auch, Neuseeländer.“ Maori ging leicht in die Hocke und schloss genießend die Augen, als Annas Hand ihm behutsam über die Kopffedern strich.

Viola stieg aus, nahm den kleinen Trolly mit ihrem Gepäck und zog ihn zu dem alten, schmiedeeisernen Tor hin, das den leicht verwilderten Vorgarten zur Straße hin abschloss. Anna nahm Maori auf die Schulter und folgte ihr. „Wie war die Fahrt?“ erkundigte sie sich. „Du warst schnell hier. Aber du nimmst ja auch keine Umwege, wie ich bei meinem letzten Aufkreuzen bei euch über Heidgen.“ Sie seufzte, „da hätte ich mir was ersparen können. Dieses Scheusal!“

Viola war froh, dass Anna hinter ihr ging, denn so konnte sie nicht sehen, dass ihre Freundin rot wurde. Genau den Umweg  über Heidgen habe ich eben auch gemacht, Anna, dachte sie und zog die Schultern zusammen. Das mag ich dir aber nicht eingestehen, denn ich könnte nicht sagen, warum ich es getan habe.

„Warum bist du so schweigsam, Veilchen?“ rief Anna, als sie die alte, knarrende Holztreppe zu ihrer Wohnung hinauf gingen. “Alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung, Anna.“ Viola seufzte, weil sie eben der guten Freundin nicht die Wahrheit gesagt hatte.

„Dein Seufzen hört sich ja herzbewegend an, Veilchen!“ rief Anna hinter ihr. „Sei ehrlich, du hast einen ganz tollen Typ kennengelernt-und willst ihn mir verschweigen. Wie sieht er denn aus? Groß, klein?“

Viola bremste ihr Lachen, als sie jetzt nach Annas Frage an Ole dachte. Ein warmes Gefühl überschwemmte sie. „Klein, Anna, ganz klein!“ rief sie und stieg die letzte Treppe bis zur Dachgeschosswohnung hinauf.

„Das gibt es doch nicht!“ protestierte die Freundin hinter ihr. „Die große Viola und ein Zwerg. Na, auf den bin ich ja mal gespannt. Musst du mir drinnen gleich erzählen, ja?“

Viola nickte und war froh, dass die tiefe Verlegenheitsröte merklich aus ihrem Gesicht gewichen war.

In Annas Wohnung schwebte der Duft vom Jasmintee, den Anna für ihre Freundin aufgegossen hatte. Anna verstaute das Gepäck, setzte Maori einfach auf die Gardinenstange und wies auf die mit einer bunten Decke bedeckte Couch. „Erst zum Vergnügen, dann zur Arbeit“, sagte sie fröhlich.

Und so kam es, dass Anna bald darauf alles über Oles Besuch bei Viola wusste. „Hatte er denn gar keine Angst, allein durch den Wald zu fahren?“ fragte sie erstaunt.

„Offenbar nicht. Außerdem hatte er doch seine Waffe, dieses Schnitzwerkzeug von seinem Vater. Ein flaches Hohleisen. Ich habe den Namen behalten, weil es sonderbar ist, dass ein kleiner Kerl so etwas nicht vergisst.“

„Wenn er stolz drauf ist, es zu besitzen, behält er auch den Namen.“

„Oder stolz auf seinen Vater, der es hat und benutzt.“ Viola schenkte Tee nach.

„Pah!“ Anna winkte ab. „Lass uns von dem bloß nicht reden. Der verdirbt mir sonst meine frohe Stimmung. Komm, wir machen uns an die Arbeit.“ Sie stand auf und ging in ein kleines Zimmer hinüber, dessen Wände mit hohen Regalen bestückt waren. Mit Regalen voller Broschüren des Naturschutzbundes, langen Reihen mit beschrifteten Ordnern, mit Papierstapeln, dazwischen auf freien Flächen Plakate mit Drucken von heilen Landschaften, von kreisenden Vögeln an hohen, blauen Himmeln.

Viola folgte ihr und zog einen Speicherstick mit den Dateien für ihre heutige Besprechung mit Anna für die Greenpeace Aktion aus ihrer Tasche. Ich hab Anna gar nichts von der Skulptur in der Vorhalle der Bank erzählt, fiel ihr ein. Komisch… Aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich es auch gar nicht. Viola schüttelte den Kopf über sich. Dass ich Anna mal was verheimlichen würde, hätte ich auch nicht gedacht, dachte sie.

 

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