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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 7

 

Viola steuerte ihren Wagen die Serpentinen hinab, die hinunter in das Städtchen Monschau führten. Sie hatte das Seitenfenster geöffnet, um sich die frische Morgenluft um den Kopf wehen zu lassen, auch um die Gesänge der zahllosen Vögel zu bestaunen. Doch die Vogelarien drangen heute nicht bis in Violas Ohr. Auch lag ihre sonst so glatte Stirn in Falten. Die Worte von Frau Berghaus, der Inhaberin des Café Burgblick, hallten Viola noch in den Ohren. Viola hatte vor einer Stunde dort angerufen und sich erkundigt, ob sie sich heute wegen der Offerte für die Einstellung einer Aushilfskraft vorstellen dürfe.

„Ach, hängt das Schild wieder im Schaufenster?“ hatte eine leise Stimme gefragt, danach entstand eine verlegene Pause.

„Haben Sie schon jemanden?“ hatte Viola gleich gefragt. „Hat es sich erledigt?“

„Nein, nein, aber…“ die Stimme von Frau Berghaus wurde so leise, dass man sie kaum noch verstehen konnte. „Aber ich hatte mich eigentlich mit meinem Mann verständigt, dass wir mit der Suche nach einer Aushilfskraft warten wollten, bis in etwa 6 Wochen die Hauptsaison losgeht. Dann sind auch schon Ferien.“ Und zögerlich setzte sie hinzu: „Aber mein Mann kann es wieder nicht abwarten, wie mir scheint.“

Viola verstand nicht, was Frau Berghaus meinte. „Soll ich mich denn in 6 Wochen wieder melden, Frau Berghaus?“ fragte sie. Sie hörte deutlich, wie Frau Berghaus die Luft einsog, als ob sie sich erschreckt hätte.

„Ach, kommen Sie nur, Frau Meiners“, hörte Viola dann, und es klang nicht mehr so unentschlossen. „Sie hören sich sympathisch an, vielleicht bringen Sie einen anderen Wind hier herein. Ja, kommen Sie nur gleich runter, ich bin im Geschäft. Mein Mann ist heute nach Frankfurt gefahren.“ Viola hörte Frau Berghaus bei diesem Satz erleichtert ausatmen.

Sie scheint froh zu sein, dass ihr Mann jetzt nicht zugegen ist, dachte Viola und steuerte mit ihrem Wagen einen freien Platz in den Parkbuchten auf dem kleinen Marktplatz an, der von vielen alten, schönen Fachwerkhäusern eingerahmt wurde.

Kaum, dass sie das Café betreten hatte, kam eine gut gekleidete Frau in den Fünfzigern auf Viola zu, streckte die Rechte zur Begrüßung aus. „Frau Meiners, nehme ich an, nicht?“

Viola nickte und lauschte dem Klang der sanften Frauenstimme nach. Die beiden Frauen begrüßten sich, tauschten ein paar Floskeln aus, dann hielt Frau Berghaus Viola für wenige Sekunden auf Armeslänge von sich, sah sie freundlich an. „Kommen Sie nur gleich mit ins Büro, Frau Meiners. Ich denke, Sie entsprechen meinen Vorstellungen.“ Und leiser setzte sie hinzu:„ und denen meines Mannes ganz bestimmt, da bin ich mir sicher.“

Erst in diesem Moment fielen Viola wieder die warnenden Worte ihrer Freundin Anna ein,

als sie vor ein paar Tagen vom Inhaber des Café Burgblick gesprochen hatten. Sie erschrak aber nur kurz, dann wischte sie alle Bedenken einfach beiseite. Zu groß war das Vertrauen zu dieser sanften, gepflegten Frau Berghaus.

So dauerte es auch nicht lange, bis Viola das Café Burgblick wieder verließ. Gut gestimmt, denn sie hatte in ihrem bunten kleinen Rucksack die Einstellungsunterlagen und auch schon einen Computerausdruck über ihre Arbeitszeiten für die nächsten zwei Monate, sodass sie ihre Zeit für den Forschungsauftrag des Naturschutzbundes und für ihre Arbeit im Café gut in Einklang bringen konnte.

Auf dem Weg zum geparkten Wagen kam Viola an der Bank vorbei, wo sie ein Konto hatte.

Ich könnte die Auszüge mitnehmen, dachte sie. Wer weiß, wann ich wieder hier unten in

der Stadt bin. Sie ging hinein, ließ sich an einem der Automaten in der weitläufigen, mit

blaugrauem Teppich ausgelegten Vorhalle ihre Kontoauszüge ausdrucken. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf ein Podest, auf dem hinter einem gläsernen Viereck aus dickem Glas eine Skulptur stand, von oben durch mehrere Spots angeleuchtet.

Viola trat interessiert näher, betrachtete die nicht ganz lebensgroße Holzfigur, die der Künstler ganz aus einem einzigen Holzstamm herausgearbeitet hatte.

Sie stellte einen alten Mann dar, der sich in einen Umhang geschlungen hatte, der auch über seinem Kopf lag und nur das hagere Gesicht frei ließ. Von dort fiel er lose bis zu seinem Schuhen hinunter, ließ aber seitlich zwei Schlitze, aus denen zwei magere Arme heraus ragten.

Die Arme hatte der alte Mann, dem das Leben und die Arbeit den Rücken gebeugt hatten, etwa in Schulterhöhe nach vorn ausgestreckt. Aus den weiten Ärmeln ragten zwei große, schwere Hände heraus, die überaus grobknochig waren. Die Finger hielt er gespreizt, die Handflächen fast ganz nach oben gedreht.

Viola  war sofort von der Skulptur fasziniert. Ihre Augen wurden noch größer als sie sonst schon waren. Noch nie hatte sie eine so ausdrucksstarke Skulptur gesehen, deren ausgestreckte Hände vom Betrachter gleichzeitig Gaben erbaten und ihm Gaben schenkten.

Beinahe ungläubig nahm Violas Blick das Gesicht des Mannes in sich auf. Augenscheinlich war der Alte blind, denn seine offenen Augen zeigten keine Pupillen, sie hatten sich hinter einem dünnen, undurchsichtigen Schleier verborgen.

Aber wie sehr belebte das überirdische Lächeln des Mannes das Gesicht! Die vollen, breiten Lippen waren so weit geöffnet, dass die Zähne fast ganz zu sehen waren. So war es wie das Strahlen eines erleuchteten Propheten, unterstrichen von vielen feinen halbkreisförmigen Fältchen an den Schläfen.

Viola wusste nicht, wie lange sie fasziniert vor dieser Skulptur gestanden hatte, ehe sie sich zögernd losmachte. Sie wollte zum Ausgang der Vorhalle gehen, da fiel ihr Blick auf das kleine, unscheinbare Messingschildchen, das vorn unter der Glasscheibe am Podest angebracht war. Leihgabe Henrik Olsen, las sie. Oles Vater! Annas Scheusal!

Viola verließ die Bank. Ihr Gang glich ihren schwankenden Gefühlen. Das ist doch nicht möglich, hämmerte es hinter ihrer Stirn. So eine wunderbare Skulptur! Geschaffen von einem Grobian!

Viola ging ganz langsam zu ihrem Wagen, steckte den Schlüssel in das Türschloss, aber sie konnte sich nicht entschließen, wegzufahren. Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen die Tür an der Fahrerseite, schloss die Augen. Immer noch sah sie das Lächeln der Skulptur und die ausgestreckten Hände vor sich. Sie hatte das Gefühl, dieser blinde Seher berühre sie sanft an der Schulter. Eine Berührung, die Viola unendlich gut tat.

 

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