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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 6

 

Viola hatte im Hohen Venn genau die Stelle für ihre Forschungen gefunden, die ihr vorgeschwebt hatte: Unweit der Grenze und nicht weit vom höchsten Punkt Belgiens  mit 700 Metern hatte sie einen auf festem Untergrund angelegten Parkplatz gefunden, war dann einem für Wanderer errichteten Holzplanken-Steg gefolgt, der rund um das ganze Moor führte. Ein paar hundert Meter weiter hatte sie schließlich auf einer flachen Anhöhe, die mit Birken und Wacholder bestanden war, den idealen Platz gefunden. Bald lagen um sie herum Blätter vom Sonnentau, einer Insekten fressenden Pflanze, Pfeifengras, Blaubeeren und Torfmoose auf dem Boden. Über die gefundenen Preiselbeeren war sie besonders erstaunt gewesen, wusste sie diese doch sonst nur auf trockenen Waldböden heimisch.

Viola versank in ihre geliebte Tätigkeit. Bald hatte sie rote Wangen vor Eifer. Ab und zu langte

sie in ihren Rucksack, holte ein Buch hervor und schlug nach, was sie genauer wissen wollte.

Sie fotografierte die gefundenen Pflanzen, sodass sie später alle Ergebnisse und Bilder sofort mit ihrem Computer an Anna überspielen konnte.

Gegen Mittag hatte sie so viel Material beisammen, dass sie beschloss, es für heute hier vor Ort genug sein zu lassen und alles erst in der Blockhütte auszuwerten. Zufrieden trat sie den Rückweg über den langen Holzsteg an, der unter ihrem Schritt im Moor schwang, obwohl Viola leicht war.

Auf der Fahrt zum Blockhaus sang sie. Wie immer, wenn es ihr gut ging. Das Singen verging ihr aber, als sie den Wagen auf den kleinen, grasbewachsenen Platz vor der erhöhten Terrasse der Blockhütte lenkte. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie das Bild sah, das sich ihr bot. Auf der Bank oben auf der Terrasse saß ein etwa sechsjähriger Junge mit rotblondem, gelocktem Haar, das er weit über die Ohren trug. Seine Gesichtshaut war nicht von der Sommersonne gebräunt, sie war wie aus hellem feinem Marmor. Ein grüngelbes, kariertes Baumwollhemd hing ihm über die kurze Hose bis an die Knie, die mit Kratzspuren von Sträuchern übersät waren. Der Junge hatte volle Lippen und ein energisches Kinn, dazu eine schmale Falte zwischen den Augenbrauen, die verriet, dass er nicht aus Weichholz geschnitzt war. Was Violas Augen aber noch größer werden ließ, war, dass Maori auf diesen zerkratzten Knien saß und mit hingebungsvoll geschlossenen Augen das Kraulen der Jungenhände auf seinem Kopf genoss. Viola zog die Handbremse und hastete aus dem Wagen, die Stufen der Terrasse hinauf. „Was machst du denn hier?“

Der Junge blieb beinahe aufreizend ruhig. „Und du?“

Viola lachte. „Ich wohne hier, wenn du nichts dagegen hast, mein kleiner Mann.“

Das kleine, energische Kinn schob sich vor. „Ich bin nicht dein kleiner Mann. Ich bin Ole.“

„Aha.“ Viola zeigte auf Maori. „Und wie kommst du an meinen Papagei?“

„Das ist ein Kea. Die leben in Neuseeland und…“

„Keine Vorträge bitte. Wie kommst du an Maori?“

„Maori ist ein schöner Name.“ Ole drückte den Kea, der immer noch die Augen geschlossen hielt, vorsichtig an sich.

„Also, Ole? Du bist mir bitte noch eine Antwort schuldig.“

Der Junge nickte in aller Seelenruhe. „Ich bin mit dem Mountainbike über den Berg. „Er wies mit dem Kinn auf den Hügel hinter sich, der zwei Täler trennte. „Wollte mal sehen, was hier auf der Seite los ist.“

„Aha, und weiter?“

„Dann hab ich dein Haus gesehen und gerufen. Aber keiner war da, bis auf den Kea hier. Der

hat laut gekräht, als ich rief.“

„Und wie kommt Maori nach draußen, bitteschön?“

„Ich hab durch das Fenster geguckt. Und hab gesehen, dass du ihn angekettet hast. Das macht man nicht. Wie heißt du eigentlich?“

Viola bemühte sich, streng zu erscheinen, obwohl die offene Art des Jungen sie zum Lachen reizte. „Ich heiße Viola.“

„Komischer Name. Hab ich noch nie gehört. Ja, und dann hab ich den Schlüssel unter der Matte vor der Tür geholt, aufgeschlossen und Maori befreit. Du siehst doch, dass er nichts dagegen hatte, Viola.“

Ole hatte ihren Namen so weich und nachsichtig ausgesprochen, dass es Viola ans Herz ging. Augenblicklich gab sie ihre scheinbare Strenge auf. Sie setzte sich neben die beiden auf die Bank, beugte sich vor. „Woher wusstest du denn, dass der Schlüssel unter der Kokosmatte vor der Tür liegt?“

Ole zuckte wie gleichgültig die schmalen Schultern. „Henrik sagt, die meisten Leute sind doof und legen ihre Schlüssel einfach unter die Fußmatte.“

„Wer ist Henrik?“

Erstaunt schaute Ole zu ihr auf. „Du kennst Henrik nicht? Jeder kennt ihn doch.“

„Ich aber nicht.“

„Na gut. Henrik ist mein Vater. Henrik Olsen. Und er ist ein berühmter Holzhauer. Guck mal, das hier hat er mir geschenkt. „Ole nestelte ein längliches, metallenes Schnitzwerkzeug mit Holzgriff aus seinem Hosenbund. „Das ist ein flaches Hohleisen. Braucht Henrik zum Holzhauen.“

„Du meinst sicher, zum Schnitzen, nicht wahr?“

„Ist doch egal. Du weißt es ja jetzt.“

Das hätt ich mir ja denken können, durchfuhr es Viola. Das also ist Ole Olsen, der Junge von diesem bärbeißigen Scheusal, von dem Anna erzählte. Der Junge, der mit dem Skateboard aus der Ausfahrt geschossen kam und den Anna beinahe angefahren hätte.

Henrik Olsen, Holzbildhauer. Viola ließ die drei Worte in sich nachklingen. Und irgendwie fand sie es gut, dass der Junge stolz auf seinen Vater war.

„Dann meinst du sicher auch, dein Vater sei Holzbildhauer und nicht Holzhauer, nicht?“

Ole winkte ab. „Ist doch egal. Du hast es ja kapiert.“

Der Junge scheint sehr auf seinem Vater zu kommen, dachte Viola. Nach allem, was Anna erzählt hat. „Weiß denn dein Vater, dass du mit deinem Mountainbike durch den Wald und über den Berg hierher unterwegs bist, Ole?“ fragt sie und stand auf.

„Nö. Ich hab nur gesagt, ich guck mal, was hinter dem Berg los ist.“ Ole drückte Maori, der heute seine Augen wohl nicht mehr öffnen wollte, wieder behutsam an sich.

„Und das hat dein Vater erlaubt?“

„Henrik“, wies Ole sie zurecht.

„Gut, also Henrik, und?“

„Er hat gesagt, ich soll aufpassen und rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause sein.“

„Zum Mittagessen?“ Viola sah auf ihre Armbanduhr. „Weißt du, dass es drei Uhr ist?“

„So spät schon?“ Ole schien jetzt doch erschrocken. Er nestelte in seiner Hosentasche herum und zog ein flaches Handy heraus. „Dann gibt es Ärger“, murmelte er. Er drückte  einige Tasten und hielt das Handy lauschend ans Ohr. Er schien angespannt, aber nicht ängstlich zu sein.

Als er Verbindung hatte, überflog so ein frohes Leuchten sein Gesicht, dass es Viola ganz warm um das Herz wurde.

„Henrik“, sagte Ole selbstbewusst, „pass auf.“ Dann erzählte er knapp, wo er jetzt war und wie er hierhergekommen war. Auch von Maori und Viola erzählte er. Und so fröhlich, dass sein Zuhörer annehmen musste, dass es ihm gut ginge. „Nee, gegessen hab ich noch nicht“, schloss er. „Hab ich glatt vergessen.“ Dann hörte er einen Moment lang seinem Vater zu, blickte aber Viola dabei an, als wenn er mit seinem Vater über sie spräche.

„Ist gut. Sag ich“, schloss er schließlich und klappte geschickt mit der Rechten den Schutzdeckel seines Handys zu. Er sah Viola mit seinen grünen Pupillen offen an.

„Na, hat dein Vater, -hat Henrik mit dir geschimpft?“

„Macht er nicht. Er hat gesagt, du könntest mir ja was zu essen kochen. Am liebsten würde ich Spaghetti mit Tomatensauce essen. Wenn nicht, soll ich sofort nach Hause kommen.“

Empörung stieg in Viola auf. Also ist er doch der unverschämte Kerl, den Anna geschildert hat. So ein Rüpel! Sagt einfach unverfroren, ich solle seinem Sohn was zu essen kochen. Und kennt mich nicht einmal!

Aber gleichzeitig mit der Empörung wusste sie: Wenn man ohne eigene Empfindlichkeit nur an Ole denkt, dann ist der Satz in Ordnung. Ole muss einen Riesenhunger haben. Aber dennoch ist es unverschämt!

„Hast du Hunger?“ fragte sie Ole.

„Klar. Ich habe immer Hunger.“

Viola wusste plötzlich, was sie tun sollte. Sie nahm Ole behutsam den Kea vom Schoß. „Dann fahr ich dich jetzt eben schnell nach Hause, Ole“, bestimmte sie. „Wo ist dein Mountainbike?“

Ole zeigte den Weg zur Straße hinunter.

So kam es, dass Viola, Ole und auch Maori eine Viertelstunde später vor dem Haus, das halb in den Hang hinein gebaut war, eintrafen. Viola holte das Mountainbike aus dem Kofferraum, drückte es dem Jungen auf dem Bürgersteig in die Hand, nahm ihm Maori ab.

„So, jetzt aber rein mit dir. Den Kea bitte zu mir.“

„Viola?“ Ole schaute Viola mit bittenden grünen Augen von tief unten an. „Kann ich Maori mal wiedersehen?“

„Ach, das lass man lieber“, wollte Viola eigentlich sagen, als sie an Oles Vater dachte. Dann aber erlag sie doch dem Blick aus grünen Augen. Sie streichelte Ole kurz über die rotblonden Locken und sagte: „Vielleicht, Ole. Nun aber rein mit dir zum Essen.“ Dann wandte Viola sich ab, stieg mit Maori in den Wagen und fuhr zügig davon, den Blick angestrengt auf die Fahrbahn geheftet. Sie wollte nicht zu Ole zurückblicken. Und zu dem Blockhaus nach oben hinauf erst recht nicht. Bloß diesen ungeschliffenen Klotz nicht zu sehen kriegen!

So sah sie auch nicht die leichte Bewegung des bunten Baumwollvorhangs an einem der Frontfenster des eigenwilligen Hauses am Hang. Und auch nicht den halb abwehrenden, halb zufriedenen Blick aus hellblauen Augen des Mannes, der die ganze Szene verfolgt hatte. Des Mannes, vor dem Viola in diesem Moment floh.

 

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