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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 5

 

Seit Tagen schon schien eine warme, noch nicht zu heiße Sonne. Jeder Morgen war verzaubert

von Pastelltönen am östlichen Himmel, von wo die Sonnenstrahlen in das erwartungsvolle Land hinein wanderten.

Viola jedoch erlebt die Faszination des Frühsommers in diesem Jahr wie durch einen dunklen Schleier. Immer noch hing ihr der Traum nach, den sie vor nun fast einer Woche gehabt hatte, und den sie nicht deuten konnte, so oft und so sehr sie sich auch bemühte. So schlief sie auch schlecht und zu wenig.  Schon im frühen Morgengrauen überfielen sie bohrende Fragen.

So war es auch heute gewesen, als sich Viola gegen acht Uhr, viel später als sonst, erhob und ins Bad ging. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Sie warf sich ein paar Hände eiskalten Wassers ins Gesicht, rieb es sich trocken und sah sich prüfend im Spiegel an.

Ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht sah sie. Eines mit hohen, breiten Wangenknochen, die nicht die Augenhöhlen zudeckten. Im Gegenteil, Viola hatte große, kreisrunde Augen, die so tiefbraun waren, dass man kaum die Pupillen darin sehen konnte. Ausdrucksstarke, lebendige Augen, in denen immer eine Frage zu liegen schien.

„Bei dir hat man immer das Gefühl, du guckst einem auf direktem Weg in den geheimsten Winkel des Herzens“, hatte Norbert oft gesagt,  und dies stets mit einem etwas gequälten Lächeln.

Norbert- Violas Züge vor dem Spiegel wurden eine Spur melancholischer, ihre sonst so

gesunde, wettergebräunte Gesichtshaut blasser. Auch Norbert nahm ihr immer noch Schlafstunden weg, wenn auch in den letzten Wochen immer seltener. Zurück blieb ein Platz in ihrem Herzen, der ausgeglüht war.

„Nun reiß dich mal zusammen“, ermahnte sich Viola vor dem Spiegel und schob energisch das Kinn vor. „Was sollen denn andere sagen, denen es wirklich schlecht geht? Guck dich mal um, wie schön du es hier hast. Und alt und hässlich bist du auch nicht. Jetzt ran an deine Arbeit, die du so liebst. Und mach ein anderes Gesicht.“

Viola lachte kurz darauf schon wieder, als Maori wie auf ein Stichwort durch den schmalen Spalt der nicht ganz geschlossenen Badezimmertür getrippelt kam. „Guten Morgen Herr Professor,“ begrüßte sie ihn, denn mit seinen auf den Rücken gelegten Flügeln und dem schaukelnden Gang erinnerte er wirklich an einen Professor, der dozierend vor seinen Studenten hin und her wandert.

„Olala, Olala“, ließ Maori sich vernehmen, und es klang beinahe zärtlich. Er schaukelte näher und wischte seinen Krummschnabel im Frottee von Violas Badezimmerlatschen hin und her. Dann trippelte er hinaus, schob die Tür mit seinem Kopf ganz auf, durchquerte das Wohnzimmer, und Viola konnte ihn schließlich vor seinem leeren Napf in der kleinen Küche stehen sehen. Mit seitlich angelegtem Kopf, so dass er Viola gut sehen konnte, schweigend.

Viola lachte hell. Sie wusste, dass es Maoris tiefste Missachtung bedeutete, wenn er zwar zeigte, was er wollte, aber dazu schwieg. „Ich komme ja schon! Verzeihung, Herr Professor. Ich habe mich verspätet.“

Bald darauf zerbiss Maori genüsslich ein Stück Möhre. Er ließ sich dann auch ohne das sonst übliche Protestgeschrei auf seine Stange neben dem Fenster zur Terrasse setzen und anketten.

„Bis später, lieber Maori“, raunte Viola, nahm ihren Rucksack mit den Utensilien für ihre Beobachtungen im Moor auf und ging zur Tür.

Maori aber trippelte gereizt auf seiner Stange hin und her. Er wusste, dass er nun für Stunden allein sein würde. Das passte ihm offensichtlich gar nicht. „Ola, Ola!“ krähte er jetzt wieder protestierend in tiefster Missachtung hinter Viola her.

 

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