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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 3

 

Der Tag, an dem Anna zu Besuch kommen wollte, war ein Samstag. Anna, die hauptberuflich beim Naturschutzbund NABU in der Stadt Aachen ihren Dienst tat, hatte heute frei und kam schon kurz nach Mittag bei ihrer gleichaltrigen Freundin Viola an.

„Hallo Veilchen!“ rief sie und ruderte heftig mit beiden Armen, kaum dass sie aus ihrem tannengrünen Kleinwagen geklettert war. Sie sagte meist Veilchen zu Viola. Nur wenn sie sehr ärgerlich über etwas war, dann sagte sie Viola.

„Anna! Lieb, dass du gekommen bist!“ Viola wischte sich beide Hände an ihrer Schürze ab, als sie Anna vor das Blockhaus fahren hörte. Fest umarmte sie heute die Freundin, länger und fester als sonst.

Anna merkte es sofort. „Was ist los, Veilchen?“ fragte sie besorgt und hielt ihre Freundin Viola auf Armeslänge von sich. „Ist was passiert?“

„Ach, eigentlich nicht, Anna. Ich hab nur vorige Nacht miserabel geträumt und habe das bis jetzt noch in den Knochen. Komm herein, ich hab uns schon Teewasser aufgesetzt.“ „ Aber den Traum musst du mir dann unbedingt erzählen, Veilchen, nicht? Du weißt, ich habe ein Faible für Träume und ihre Deutungen.“

„An meinem beißt du dir aber diesmal die Zähne aus. Br…! „ Viola schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Wenn ich ihn doch aus dem Kopf bekäme.!“

„O.k., ich komme rein.“ Anna gab Viola frei, wies dann aber auf ihren Wagen, anstatt mit Viola die Holzstufen zu der kleinen Terrasse vor dem Blockhaus hinaufzusteigen. „Doch guck vorher mal, ich hab ein Reiseandenken mitgebracht “ Sie zeigte auf den rechten vorderen Kotflügel ihres Wagens, der eine deutlich sichtbare Beule aufwies. Dazu lachte sie hell, dass es weit über die Obstwiese schallte und als schwaches Echo vom nahen Fichtenwald zurückkam.

„O Gott, was hast du denn da gemacht, Anna?“ Viola hielt sich erschrocken die rechte Hand vor den Mund. „Hoffentlich kein Reh!“

„Nee, Frau Biologin. Deine Schutzbefohlenen sind alle heil.“ Anna setzte sie sich auf die oberste der Holzstufen, ungeachtet des dünnen Mooses, das taunass darauf schimmerte. “Ach lass nur, ist `ne alte Jeans“, wischte sie Violas Einwand weg und zog die Freundin neben sich. „Ärgerlich an dem Ganzen ist nur, dass die Mülltonne, von der die Beule stammt, nicht den geringsten Kratzer hat“, erzählte Anna dann und schnaubte ärgerlich.  „Mein schöner grüner Flitzer !“

„Wie ist es passiert? Bist du irgendwo auf den Bürgersteig…?“

Anna winkte ab. „Ach was! Hier gleich bei dir überm Berg. Wie heißt der Ort noch? Heidgen?“ und  Viola nickte. „Da kam plötzlich die blöde graue Mülltonne über die Straße gerutscht. Ich hätte ihr ausweichen können, aber da hing ein kleiner Junge mit seinem Skateboard dran.“

„Ist nicht wahr, ne?“ Viola hielt den Atem an.

„Doch, so war es. Er kam einfach aus einer Ausfahrt raus, und gegen die Tonne.“ Annas flache Rechte zeigte steil nach unten „und es war eine lange Ausfahrt, geteert und steil. Bis ganz nach oben zu dem Holzhaus am Hang.“ Anna hielt einen Moment inne.  „Nein, eigentlich im Hang. Da hat jemand sein Haus halb in den Hang gebaut. Hast du das noch nicht gesehen?“ Und als Viola den Kopf schüttelte, fuhr sie schnaubend fort: „Ich habe also eine Vollbremsung gemacht, hab die Tonne aber noch erwischt. Das Ergebnis siehst du ja.“ Anna wies wieder auf ihren Wagen.

„Und weiter? Was hat der Junge gesagt?“

Annas Schultern sanken herunter, ihre Stimme wurde weich: „Ach, der ist doch erst so um die sechs herum. Der war schneeweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Der hat mir so leid getan.“ Und dann, nach kurzem Zögern: „Ein hübscher Junge, übrigens. Rotblonde Locken, fast bis zu den Schultern und blaue Augen, wie Vergissmeinnichte.“

„Nun übertreib man nicht, wie Vergissmeinnichte…!“

„Doch, genau wie sein Vater.“ Annas Miene wurde mit einem Schlag düster. „Diesem Ekelpaket,  schrecklich!“

„Ich kapier nichts, erzähl.“

„Der kam aus der Ausfahrt gestürmt wie eine Lawine. Hatte wohl meine kreischenden Reifen beim Bremsen gehört.“

„Und? Ist der Kleine sein Sohn?“

„Ich denke, ja.“ Anna holte entrüstet Luft. “Er schnappte sich den Kleinen und wollte verschwinden, aber da hab ich ihn so laut angebrüllt, dass er wie angewurzelt stehenblieb.“ Plötzlich lachte Anna wieder ihr ansteckendes helles Lachen. „Ich-ich habe einen Riesen angebrüllt.“

„Einen Riesen?“

Anna streckte beide Arme zur Seite, soweit sie nur konnte. „Der Mensch ist bestimmt zwei Meter groß und einen Meter breit. So kam er mir wenigstens vor.“

„Hat er sich denn entschuldigt und sich deine Adresse geben lassen, wegen des Schadens?“

„Beschimpft hat er mich, der Klotz!“ Anna schnaubte. „Ich sollte gefälligst in einer Wohngegend Schritttempo fahren  oder meinen Führerschein zurückgeben.“

„Ist ja hart, Anna. Und der wohnt hier gleich im nächsten Tal, sagst du? Den hab ich noch nie gesehen. So, wie du ihn beschreibst, müsste er mir doch aufgefallen sein.“

„Alle guten Geister sollen dich davor bewahren, Veilchen!“ Anna schnaubte wieder. „Seine Adresse hab ich übrigens auch,  aber erst, als ich drohte, auf der Stelle mit meinem Handy die Polizei zu rufen.“

„Und? Wer ist es?“

 „Henrik Olsen, Holzbildhauer. Ich hab mir alles notiert, Namen, Adresse, alles. Der kriegt ein Schreiben von meiner Versicherung, das kann er sich hinter den Spiegel stecken.“

„Henrik Olsen, hab´ ich noch nie gehört.“ Viola lauschte dem Klang des Namens nach. „Klingt nach Norden.“

„Nach Waldschrat, Rübezahl oder Elch!“ schimpfte Anna, seufzte dann. „Komm, Veilchen, lass uns reingehen, ich habe Teedurst.“

Die beiden Freundinnen standen auf und gingen auf die schwere Holzbohlentür zu.

Da blieb Anna plötzlich nochmal stehen und hielt Viola am Arm zurück. Auf ihrem Gesicht lag nun ein verträumtes Lächeln. Und mit weicher Stimme sagte sie leise: „Weißt du, was schlimm an dem Ganzen ist, Veilchen?“

„Sag`s.“

„Dass dieser Büffel von Riese aussieht wie eine antike Statue.“ Und noch leiser: “Er könnte für Michelangelo Modell stehen. So ein schönes Scheusal aber auch.“

 

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