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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 2

 

Viola wurde wach, als ihr die Sonne durch einen Spalt in der nicht ganz geschlossenen Übergardine ins Gesicht schien. Mit einem kleinen, erschrockenen Schrei setzte sie sich auf, strich ihr maronenbraunes, halblanges Haar aus der Stirn. Der Traum der letzten Nacht hielt sie wieder wie eine riesige Faust in sich fest.

Ich muss aufstehen, sagte sich die junge Frau und schwang ihre nackten Füße über die Kante des breiten Holzbettes. Irgendetwas tun, Fenster aufreißen, Vorhänge öffnen, frischen Wind hereinlassen, Frühstück zubereiten, nach meinem Papagei gucken, vielleicht zum Einkaufen in die Stadt fahren, oder gleich nach dem Frühstück mit der Arbeit beginnen. Nur ablenken, nicht mehr an diesen gruseligen Traum denken!

Viola stieg in ihre buntbestickten Mokassins und ging ins Wohnzimmer hinüber, das eine Hälfte des Blockhauses ausmachte. In dem Drittel am breiten Fenster zur Wiese hin, da standen ihr Schreibtisch, dahinter der Stuhl mit dem Schaffell. Auf der Platte des Schreibtisches ragte der Bildschirm ihres Computers auf, der immer leicht wackelte, wenn sie durch den Raum ging, weil die Holzdielen federten. Seitlich an die Wand aus dunkelbraunen Holzstämmen klammerte sich ein Regal, in dem Viola den Drucker, den Scanner und die Papiervorräte untergebracht hatte. Direkt hinter dem Schreibtischstuhl hatte Viola ihr in Glas und Rahmen eingefasstes Diplom aufgehängt. Es wies sie als frisch gebackene Diplombiologin aus. Der Name Viola Meiners war in verschnörkelter Zierschrift gehalten, ebenso das Geburtsjahr. Darunter prangten in zwei Säulen nebeneinander viele kaum lesbare Unterschriften.

Über Violas Gesicht mit dem dunklen Teint von langen Aufenthalten in der Natur bei Wind und Wetter flog in diesem Augenblick ein winziges Lächeln, als sie ihr Diplom dort so vorherrschend an der Holzwand hängen sah. Die Spottworte ihrer Freundin Anna fielen ihr ein, die diese stets für den Platz des Diploms übrig hatte: „Viola Meiners, Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.“ „Ach, Anna“, seufzte Viola jetzt erleichtert bei dem Gedanken an ihre Freundin, die stets fröhlich und belastbar war. “Ich werde dich gleich anrufen und dir von dem komischen Traum erzählen. Bin gespannt, was du dazu sagst“. Und dann, leiser, „Hoffentlich lachst du mich nicht gleich aus, Anna. Es war alles so schrecklich plastisch im Traum, ich könnte es zeichnen.“

„Olala! Olala!“ krähte in dem Moment, als Viola die kleine Küche betrat, Violas Papagei Maori. Er saß auf seiner Holzstange neben dem Fenster und trippelte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Er war gedrungen und von der typisch olivgrünen Farbe der Keas aus Neuseeland, von wo er kam. Und nach den Ureinwohnern von Neuseeland, den Maoris, hatte Violas früherer Freund Norbert ihn dann auch benannt, als er ihn auf einer seiner Reisen halbtot aufgefunden und nach langem Streit mit den Behörden mitgebracht hatte.

Norbert, ein Schatten flog über Violas Gesicht, als sie an Norbert dachte, der sie nach einer dreijährigen Liebesbeziehung vor eineinhalb Jahren in Richtung New York verlassen hatte. Norbert, der Geologe und Fotoreporter, der vom Magazin NATIONAL GEOGRAPHIC in den Staaten ein Angebot als Ressortleiter bekommen hatte, das ihn so gereizt hatte, dass er Viola dafür geopfert hatte. Seinen Kea Maori hatte er Viola überlassen, ohne ein Wort. Dies war bis heute ein steter Stachel in Violas Herz. „Wie konnte er annehmen, dass ich Maori einfach behalten wollte“, hatte sie sich damals oft gefragt. „Habe ich Norbert die ganzen drei Jahre nicht richtig gekannt, und er mich nicht?“

Doch, musste sie sich dann stets eingestehen, es hat mich schon richtig gekannt: Er wusste, dass ich Maori behalten würde. Dann stieg jedes Mal heißer Zorn auf Norbert in ihr auf, weil sie sich so wehrlos  wegen ihrer Gutmütigkeit fühlte.

„Ola!“ krähte Maori jetzt vorwurfsvoll. Ola sagte er immer, wenn seine Stimmung nicht die beste war. Es war seine Kurzform für Viola. Wenn er aber anlehnungsbedürftig war und gut gelaunt, dann rief er stets: “Olala!“

Viola fing sich wieder. „Du hast ja recht, Maori. Ich bin mit deinem Frühstück heut spät dran. Ich beeile mich, ok?“ Schnell schnitt sie ihm einen Apfel in kleine Stücke, pflückte Weintrauben vom Stiel und fütterte ihn oben auf seiner Holzstange, wo er mit einem dünnen Messingkettchen um den Fuß angekettet stets die Nacht verbrachte. Ihn ohne Kettchen über Nacht zu lassen, hieß, die Küche für die nächste Müllabfuhr vorzusehen.

Maori setzte einen Fuß über den anderen, dann packte er ein Obststück mit seinem krummen, kräftigen Schnabel. Und Viola bekam ein zärtliches „Olala“, als er das letzte Stück geschluckt hatte.

Viola ging ins Bad, um ausgiebig zu duschen, als wenn sie so den bedrohlichen Traum der Nacht abspülen könne. Aber es gelang ihr nur unvollkommen.

Was hat diese Frau mir sagen wollen? Diese Frage tauchte immer wieder auf. Jetzt, -und auch in den nächsten Wochen, sobald sie nur einen Moment daran dachte.

Später rief sie ihre Freundin Anna an, und die beiden verabredeten sich für den Nachmittag des nächsten Tages. Anna wollte von Aachen herüber in die Eifel kommen, wo Viola ein Blockhaus bewohnte, das dem Naturschutzbund NABU gehörte, in dessen Auftrag sie dort am Rande des neuen Nationalparks einen Forschungsauftrag hatte.

„Wie schön“, murmelte Viola zufrieden, als sie den Hörer auflegte.

„Schön!“ krähte Maori deutlich und schlug begeistert mit seinen Flügeln, sodass bald kleine, grüne Federn in der Luft tanzten.

 

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