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Rose Ravenstein
 

Das Geheimnis der vergessenen Worte

Kapitel 1

 

Zuerst hörte Viola nur ein Knacken. Es war nicht besonders laut, aber es klang bedrohlich im Dunkel, das sie umgab. Es war kein harmloses Knacken, wie wenn sich ein Holzschrank nach einem Temperaturwechsel reckt. Es hatte etwas Lauerndes, Gefährliches, wie Ruhe vor einem Sturm. Dann hörte Viola ein erstes Splittern. Leise, als wenn jemand ein Streichholz im Dunkeln zwischen den Fingern knickt. Sie atmete instinktiv flach, um kein Geräusch zu überhören, dennoch kam ihr Atmen ihr vor wie ein Blasebalg in einer Schmiede. Ihre Hand legte sich auf ihren Mund, um ja keinen Laut über die Lippen zu lassen. Ihre Hand war kalt im Schrecken.

Ich muss aufstehen, dachte Viola und versuchte, die Bettdecke beiseite zu schieben. Ich muss nachsehen, was da los ist. Aber es gelang ihr nicht, ihr Arm war wie aus Blei. „Wie spät mag es sein?“ fragte sie sich. „ Sicher noch mitten in der Nacht, es ist so dunkel.“ Auch der Griff nach der Uhr auf dem Nachttisch ging ins Leere. Viola hatte das Gefühl, zu schweben.

Dann zersplitterte das Fenster. Viola biss sich in ihrem Schreck in die Finger der Hand vor ihrem Mund, die sich längst zu einer Faust geballt hatte. Sie wollte etwas rufen. Ihre Lippen öffneten sich auch, aber es kam kein Laut darüber. Plötzlich wirbelte die Gardine auf ihr Bett, die der nun hereinbrechende Sturm abgerissen hatte. Viola griff nach ihr wie nach einem Rettungsanker, aber die Gardine war schlaff, sie hing ihr leblos in der Hand. Sie ließ sich fallen. „Aufhören! Aufhören“, wollte Viola rufen. „Schluss jetzt mit diesem Spuk!“ Doch es drang nur ein Keuchen über ihre Lippen.

Es kam noch ärger. Von draußen brauste ein gewaltiger Berg heran. Ein Berg, von dem Viola nicht wusste, was es war, woraus er bestand. Mit schmerzendem Knallen zerfetzte er alles, was sich ihm in den Weg stellte.

„Ein Bergsturz,“ schoss es ihr durch den Kopf. „Ein Hang hat sich gelöst und schießt auf meine Hütte zu!“ Dann aber fiel ihr nebelhaft ein, dass rings um ihre Hütte, die mehr ein festes Holzhaus war, gar kein Hang war. Da war nur ebene Wiese, bestanden mit alten Obstbäumen.

Die Gedanken drehten sich hinter Violas Stirn. Sie fühlte, wie das Bett unter ihr schwankte. Dann sah sie, dass der Bergrutsch kein Bergrutsch war. Der riesige, dunkle Hügel, der sich durch das zersplitterte Fenster wälzte, war eine Welle! Mit giftigem Zischen klatschte sie gegen die Holzbohlen der Blockhauswand, zwängte sich durch die gähnende Fensteröffnung herein. In Bruchteilen von Sekunden schwammen Stühle umher, der Tisch krachte an eine Wand. Gläser und Tassen, die darauf gestanden hatten, versanken in dunklen Strudeln.

„Ich ertrinke hier“, hämmerte es hinter Violas Stirn. „Ich muss raus aus dem Haus. Auf die Terrasse. Draußen bin ich sicherer, kann vielleicht schwimmen, wenn die Wellen zu hoch sind, als dass ich in ihnen stehen könnte.“

Viola wollte gerade nach der Bettdecke greifen, sie von sich ziehen, die Füße auf den Boden bringen, als es plötzlich unheimlich still wurde. Ihre Hand hielt mitten in der Bewegung inne. Ungläubig sah sie, wie das Wasser durch die aufgesprungene Tür hinauslief, weniger und weniger wurde, bis es gänzlich verschwunden war. Das Zischen und Klatschen ließ nach. Es erstarb in einem letzten kleinen Gurgeln.

Dann breitete sich unheimliche Stille aus. Sie legte sich wie ein riesiges weißes Leichentuch über den Boden. Nur der kurze Weg von Violas Bett bis zur offenen Tür blieb frei davon. Die nassen Holzdielen schimmerten fahl im Schein eines matten Mondlichtes, das fahrig durch den Raum geisterte. Es ist vorbei! dachte Viola und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Ich lebe noch, liege in meinem Bett und atme. Erleichterung wollte in ihr aufkommen, langsam hob sich der Nebel vor ihren wirbelnden Gedanken.

Bis sie den hellen Schein in der Diele sah, der langsam näher kam. Er tastete sich zögerlich durch den schmalen Flur vor ihrem Schlafzimmer. Wenn er ein Geräusch hätte machen können, wäre es ein mattes Schlurfen gewesen. Er flackerte wie ein Irrlicht, wurde beim Näherkommen zögernd deutlicher. Viola hielt den Atem an. Das Blut in ihren Adern, das eben seinen ruhigen Fluss wiedergefunden hatte, begann wieder zu rasen. Sie starrte wie gebannt auf die rechteckige Öffnung in der Wand, die eben noch mit einer Tür verschlossen gewesen war. Das Licht kam näher. Dann erschienen zwei schlanke Frauenhände, die sich schützend um ein aufgeregt flackerndes Teelicht gelegt hatten. Die Hände mit dem Licht gehörten zu einer jungen Frau, die das Zimmer betrat. Sie ging zum Fußende des Bettes, ohne dass man den geringsten Laut ihres Schrittes hätte hören können. Dort hob sie das Teelicht bis an ihr Kinn-und Viola sah sich selbst dort vor dem Bett stehen! Die Frau hatte ihr Gesicht, ihre Haare, auch wenn sie diese bis zu den Schultern trug, länger.

Sie hob jetzt die rechte Hand, streckte den Zeigefinger mahnend hoch. Gleichzeitig öffnete sie ihre Lippen und sprach zu ihr. Das dauerte nur Sekunden, die Viola aber endlos vorkamen. Die Frau mit ihrem Gesicht schließlich ließ die Hand mit dem Teelicht sinken, lächelte Viola noch einmal zu, winkte mit einer scheuen Handbewegung, dann wandte sie sich ab. Wie schwerelos bog sie um das Rechteck, wo die Tür gewesen war, schwebte lautlos durch den kleinen Flur davon. Der flackernde Lichtschein wurde langsam schwächer, war schließlich nur noch eine kleine helle Lichtzunge, bis er ganz erlosch.

Viola hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt, ihre rechte Hand griff dem verschwundenen Lichtschein hinterher, als wolle sie ihn aufhalten. „Halt,“wollte sie rufen. „Komm zurück! Ich weiß nicht mehr, was du gesagt hast! Bitte, komm zurück!“

Von diesem lauten Rufen erwachte Viola Meiners. Lange brauchte sie, um in die Wirklichkeit zu finden. „Was für ein entsetzlicher Traum“, dachte sie und wischte sich mit einem Zipfel des Bettlakens den Schweiß vom Gesicht und von der Brust. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an die Bilder des Traums loszuwerden. Aber sie ließen sich nicht löschen. Viola ahnte, dass sich das Geheimnis auch morgen am hellen Tag nicht so einfach klären lassen würde. Was hat diese Frau mir denn nur gesagt, fragte sie sich immer wieder. Das war doch eine Botschaft!  So ein Quatsch! versuchte sie sich dann zur Ordnung zu rufen. Seit wann glaube ich denn an Übersinnliches? Ich doch nicht! Viola zwang sich mit Mühe zur Ruhe. Sie versuchte, ruhig und tief zu atmen, was die Wogen in ihr ein wenig glättete.

Ich werde mich morgen bei Tageslicht mit dem Traum beschäftigen, dachte sie. Dann sieht alles wieder anders aus, und ich werde bestimmt darüber lachen. Sie drehte sich zum Einschlafen auf die Seite, schob das Kopfkissen unter ihre Wange, hüllte sich aber entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit diesmal so fest und eng in ihre Bettdecke ein, als sollte diese sie wie eine Rüstung beschützen. Gegen Morgen erst schlief sie für zwei Stunden ein. Für einen flachen, unruhigen Schlaf, der sie nicht erfrischte. Der Traum mit ihrem Ebenbild und mit den geheimnisvollen Worten, an die sich Viola nicht mehr erinnern konnte, lag schwer wie Blei auf ihrer Brust.

 

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